Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 1. Berlin, 1759.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Bewegung des Herzens.
§. 40.
Widerlegung der Kraft, die man zu diesem Ende
der Wärme, oder der Luft beilegt.

Es müssen diejenigen, welche den Umlauf des Blutes
von der Wärme herleiten, vorher erstlich zeigen, woher
die Wärme bei denen Thieren entstehe: allem Ansehen
nach aber suchen sie in der That die Frage auf eine un-
rechte Art zu verdrehen. Ein in starker Ohnmacht lie-
gendes Thier ist durchaus kalt; verschaffet man ihm auf
einigerlei Weise, vermittelst eines Reizes, wodurch das
Herz zum Schlagen genöthiget wird, die Bewegung wie-
der, so wird das Thier auch zugleich seine Wärme wieder
bekommen, jedoch nicht eher, als nachdem die Bewegung
ist wiederhergestellet worden. Das Thier beweget sich
nicht darum, weil das Blut warm geworden ist, sondern
es fängt an wieder warm zu werden, weil das Blut sei-
ne Bewegung wieder bekommen hat. Es zeiget sich die
Richtigkeit dieses Beweißgrundes, der ohnehin an sich
gewiß ist, am allerdeutlichsten bei der grössesten Kälte,
wenn die Luft recht eiskalt ist. Denn die Kälte ist als-
dann so groß, daß das Queksilber zu Jeniseisk in Sibe-
rien, unterhalb den Punkt des Gefrierens, auf den
120sten Fahrenheitischen Grad (h) herabfällt. Und doch
leben unter diesem Grade von strenger Kälte, oder noch
unter kälteren Himmelsstrichen, Wallfische, Meerkälber,
und sogar Menschen, welche ihre Lebensart nöthiget, un-
ter freien Himmel der Jagd nachzugehen, und ihre Rei-
sen zu thun. Hier kann demnach die Luft dem Blute
von aussen keine Wärme mittheilen: sie raubet vielmehr
die im Blute befindliche Wärme, welche in die Luft über-
geht, denn das nennen wir eben das Kaltwerden. Und
doch lebt der Mensch in solcher Luft, er behält, so lange

er
(h) Gmelin, in der Vorrede zur Flora Sibirica, T. I. S. LXXIII.
H h h 2
Die Bewegung des Herzens.
§. 40.
Widerlegung der Kraft, die man zu dieſem Ende
der Waͤrme, oder der Luft beilegt.

Es muͤſſen diejenigen, welche den Umlauf des Blutes
von der Waͤrme herleiten, vorher erſtlich zeigen, woher
die Waͤrme bei denen Thieren entſtehe: allem Anſehen
nach aber ſuchen ſie in der That die Frage auf eine un-
rechte Art zu verdrehen. Ein in ſtarker Ohnmacht lie-
gendes Thier iſt durchaus kalt; verſchaffet man ihm auf
einigerlei Weiſe, vermittelſt eines Reizes, wodurch das
Herz zum Schlagen genoͤthiget wird, die Bewegung wie-
der, ſo wird das Thier auch zugleich ſeine Waͤrme wieder
bekommen, jedoch nicht eher, als nachdem die Bewegung
iſt wiederhergeſtellet worden. Das Thier beweget ſich
nicht darum, weil das Blut warm geworden iſt, ſondern
es faͤngt an wieder warm zu werden, weil das Blut ſei-
ne Bewegung wieder bekommen hat. Es zeiget ſich die
Richtigkeit dieſes Beweißgrundes, der ohnehin an ſich
gewiß iſt, am allerdeutlichſten bei der groͤſſeſten Kaͤlte,
wenn die Luft recht eiskalt iſt. Denn die Kaͤlte iſt als-
dann ſo groß, daß das Quekſilber zu Jeniſeisk in Sibe-
rien, unterhalb den Punkt des Gefrierens, auf den
120ſten Fahrenheitiſchen Grad (h) herabfaͤllt. Und doch
leben unter dieſem Grade von ſtrenger Kaͤlte, oder noch
unter kaͤlteren Himmelsſtrichen, Wallfiſche, Meerkaͤlber,
und ſogar Menſchen, welche ihre Lebensart noͤthiget, un-
ter freien Himmel der Jagd nachzugehen, und ihre Rei-
ſen zu thun. Hier kann demnach die Luft dem Blute
von auſſen keine Waͤrme mittheilen: ſie raubet vielmehr
die im Blute befindliche Waͤrme, welche in die Luft uͤber-
geht, denn das nennen wir eben das Kaltwerden. Und
doch lebt der Menſch in ſolcher Luft, er behaͤlt, ſo lange

er
(h) Gmelin, in der Vorrede zur Flora Sibirica, T. I. S. LXXIII.
H h h 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0907" n="851"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Die Bewegung des Herzens.</hi> </fw><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 40.<lb/>
Widerlegung der Kraft, die man zu die&#x017F;em Ende<lb/>
der Wa&#x0364;rme, oder der Luft beilegt.</head><lb/>
            <p>Es mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en diejenigen, welche den Umlauf des Blutes<lb/>
von der Wa&#x0364;rme herleiten, vorher er&#x017F;tlich zeigen, woher<lb/>
die Wa&#x0364;rme bei denen Thieren ent&#x017F;tehe: allem An&#x017F;ehen<lb/>
nach aber &#x017F;uchen &#x017F;ie in der That die Frage auf eine un-<lb/>
rechte Art zu verdrehen. Ein in &#x017F;tarker Ohnmacht lie-<lb/>
gendes Thier i&#x017F;t durchaus kalt; ver&#x017F;chaffet man ihm auf<lb/>
einigerlei Wei&#x017F;e, vermittel&#x017F;t eines Reizes, wodurch das<lb/>
Herz zum Schlagen geno&#x0364;thiget wird, die Bewegung wie-<lb/>
der, &#x017F;o wird das Thier auch zugleich &#x017F;eine Wa&#x0364;rme wieder<lb/>
bekommen, jedoch nicht eher, als nachdem die Bewegung<lb/>
i&#x017F;t wiederherge&#x017F;tellet worden. Das Thier beweget &#x017F;ich<lb/>
nicht darum, weil das Blut warm geworden i&#x017F;t, &#x017F;ondern<lb/>
es fa&#x0364;ngt an wieder warm zu werden, weil das Blut &#x017F;ei-<lb/>
ne Bewegung wieder bekommen hat. Es zeiget &#x017F;ich die<lb/>
Richtigkeit die&#x017F;es Beweißgrundes, der ohnehin an &#x017F;ich<lb/>
gewiß i&#x017F;t, am allerdeutlich&#x017F;ten bei der gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e&#x017F;ten Ka&#x0364;lte,<lb/>
wenn die Luft recht eiskalt i&#x017F;t. Denn die Ka&#x0364;lte i&#x017F;t als-<lb/>
dann &#x017F;o groß, daß das Quek&#x017F;ilber zu Jeni&#x017F;eisk in Sibe-<lb/>
rien, unterhalb den Punkt des Gefrierens, auf den<lb/>
120&#x017F;ten Fahrenheiti&#x017F;chen Grad <note place="foot" n="(h)"><hi rendition="#fr">Gmelin,</hi> in der Vorrede zur <hi rendition="#aq">Flora Sibirica, T. I.</hi> S. <hi rendition="#aq">LXXIII.</hi></note> herabfa&#x0364;llt. Und doch<lb/>
leben unter die&#x017F;em Grade von &#x017F;trenger Ka&#x0364;lte, oder noch<lb/>
unter ka&#x0364;lteren Himmels&#x017F;trichen, Wallfi&#x017F;che, Meerka&#x0364;lber,<lb/>
und &#x017F;ogar Men&#x017F;chen, welche ihre Lebensart no&#x0364;thiget, un-<lb/>
ter freien Himmel der Jagd nachzugehen, und ihre Rei-<lb/>
&#x017F;en zu thun. Hier kann demnach die Luft dem Blute<lb/>
von au&#x017F;&#x017F;en keine Wa&#x0364;rme mittheilen: &#x017F;ie raubet vielmehr<lb/>
die im Blute befindliche Wa&#x0364;rme, welche in die Luft u&#x0364;ber-<lb/>
geht, denn das nennen wir eben das Kaltwerden. Und<lb/>
doch lebt der Men&#x017F;ch in &#x017F;olcher Luft, er beha&#x0364;lt, &#x017F;o lange<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H h h 2</fw><fw place="bottom" type="catch">er</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[851/0907] Die Bewegung des Herzens. §. 40. Widerlegung der Kraft, die man zu dieſem Ende der Waͤrme, oder der Luft beilegt. Es muͤſſen diejenigen, welche den Umlauf des Blutes von der Waͤrme herleiten, vorher erſtlich zeigen, woher die Waͤrme bei denen Thieren entſtehe: allem Anſehen nach aber ſuchen ſie in der That die Frage auf eine un- rechte Art zu verdrehen. Ein in ſtarker Ohnmacht lie- gendes Thier iſt durchaus kalt; verſchaffet man ihm auf einigerlei Weiſe, vermittelſt eines Reizes, wodurch das Herz zum Schlagen genoͤthiget wird, die Bewegung wie- der, ſo wird das Thier auch zugleich ſeine Waͤrme wieder bekommen, jedoch nicht eher, als nachdem die Bewegung iſt wiederhergeſtellet worden. Das Thier beweget ſich nicht darum, weil das Blut warm geworden iſt, ſondern es faͤngt an wieder warm zu werden, weil das Blut ſei- ne Bewegung wieder bekommen hat. Es zeiget ſich die Richtigkeit dieſes Beweißgrundes, der ohnehin an ſich gewiß iſt, am allerdeutlichſten bei der groͤſſeſten Kaͤlte, wenn die Luft recht eiskalt iſt. Denn die Kaͤlte iſt als- dann ſo groß, daß das Quekſilber zu Jeniſeisk in Sibe- rien, unterhalb den Punkt des Gefrierens, auf den 120ſten Fahrenheitiſchen Grad (h) herabfaͤllt. Und doch leben unter dieſem Grade von ſtrenger Kaͤlte, oder noch unter kaͤlteren Himmelsſtrichen, Wallfiſche, Meerkaͤlber, und ſogar Menſchen, welche ihre Lebensart noͤthiget, un- ter freien Himmel der Jagd nachzugehen, und ihre Rei- ſen zu thun. Hier kann demnach die Luft dem Blute von auſſen keine Waͤrme mittheilen: ſie raubet vielmehr die im Blute befindliche Waͤrme, welche in die Luft uͤber- geht, denn das nennen wir eben das Kaltwerden. Und doch lebt der Menſch in ſolcher Luft, er behaͤlt, ſo lange er (h) Gmelin, in der Vorrede zur Flora Sibirica, T. I. S. LXXIII. H h h 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende01_1759
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende01_1759/907
Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 1. Berlin, 1759, S. 851. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende01_1759/907>, abgerufen am 23.11.2024.