§. 25. Ob sich der Wohnsitz der Seele noch enger einschränken lasse.
Wir haben diese Frage in dem vorhergehenden Ab- schnitte berühret, da sie von berümten Männern durch Versuche, und nicht durch Gründe bestätiget werden wollte. Nunmehr erklären wir uns überhaupt, daß man der Seele keine engere Wohnung, als der gesammte Ursprung aller Nerven ist, anweisen müsse, und es steht uns nicht frei, der Seele irgend eine Stelle zur Wohnung einzuräumen, wenn wir nicht alle Nerven zu derselben hinzuführen vermögend sind. Man sieht nämlich leichtlich ein, daß von dem allgemeinen Empfindungs- quelle, weder das Empfinden irgend eines Theilchen des beseelten Körpers, noch irgend ein Nerve, der von irgend einem Theile des Körpers, den Eindruck der äusserlichen Gegenstände zurücke führen muß, weit abliegen müsse, weil sich alsdenn, wenn es einen solchen Nerven geben sollte, die Empfindung in der Seele nicht abbilden könnte. Und so ist es auch mit den bewegenden Nerven beschaf- fen; denn es müssen alle diese von dem gemeinschaftli- chen Empfindungsquelle entspringen, um daraus die be- wegende Kräfte schöpfen zu können.
Daher kann die Hirnschwiele auch ohne die oben angeführte Versuche [Spaltenumbruch]g, so wenig als die helle Scheide- wand h, oder die sehr kleine Zirbeldrüse i, die gestreif- ten Körper k, oder irgend eine besondere Gegend im Gehirne, vor dem Wohnsitz der Seele gehalten werden.
Daß
gp. 344.
hKenelm., Digby, Duncan. apud Deidier. anat. p. 250. oder am Grunde des Gewölbes p. 25. mit der Hirnschwiele gemeinschaft- lich Teichmeyer. progr. 1729. ed.
iCartesius, Muralt. colleg. p. [Spaltenumbruch]
503. Gaukes med. mathem. p. 208. Waldschmid. de gland pin. wider diese Meinung schreiben Hoboke- nius, Duncan p. 21.
k Das sensorium commune verlegt dahin Willis anim. brut. c. 10. &c. Vieussens p. 125.
VIII. Abſchnitt. Die Muthmaſſungen.
§. 25. Ob ſich der Wohnſitz der Seele noch enger einſchraͤnken laſſe.
Wir haben dieſe Frage in dem vorhergehenden Ab- ſchnitte beruͤhret, da ſie von beruͤmten Maͤnnern durch Verſuche, und nicht durch Gruͤnde beſtaͤtiget werden wollte. Nunmehr erklaͤren wir uns uͤberhaupt, daß man der Seele keine engere Wohnung, als der geſammte Urſprung aller Nerven iſt, anweiſen muͤſſe, und es ſteht uns nicht frei, der Seele irgend eine Stelle zur Wohnung einzuraͤumen, wenn wir nicht alle Nerven zu derſelben hinzufuͤhren vermoͤgend ſind. Man ſieht naͤmlich leichtlich ein, daß von dem allgemeinen Empfindungs- quelle, weder das Empfinden irgend eines Theilchen des beſeelten Koͤrpers, noch irgend ein Nerve, der von irgend einem Theile des Koͤrpers, den Eindruck der aͤuſſerlichen Gegenſtaͤnde zuruͤcke fuͤhren muß, weit abliegen muͤſſe, weil ſich alsdenn, wenn es einen ſolchen Nerven geben ſollte, die Empfindung in der Seele nicht abbilden koͤnnte. Und ſo iſt es auch mit den bewegenden Nerven beſchaf- fen; denn es muͤſſen alle dieſe von dem gemeinſchaftli- chen Empfindungsquelle entſpringen, um daraus die be- wegende Kraͤfte ſchoͤpfen zu koͤnnen.
Daher kann die Hirnſchwiele auch ohne die oben angefuͤhrte Verſuche [Spaltenumbruch]g, ſo wenig als die helle Scheide- wand h, oder die ſehr kleine Zirbeldruͤſe i, die geſtreif- ten Koͤrper k, oder irgend eine beſondere Gegend im Gehirne, vor dem Wohnſitz der Seele gehalten werden.
Daß
gp. 344.
hKenelm., Digby, Duncan. apud Deidier. anat. p. 250. oder am Grunde des Gewoͤlbes p. 25. mit der Hirnſchwiele gemeinſchaft- lich Teichmeyer. progr. 1729. ed.
iCarteſius, Muralt. colleg. p. [Spaltenumbruch]
503. Gaukes med. mathem. p. 208. Waldſchmid. de gland pin. wider dieſe Meinung ſchreiben Hoboke- nius, Duncan p. 21.
k Das ſenſorium commune verlegt dahin Willis anim. brut. c. 10. &c. Vieuſſens p. 125.
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VIII. Abſchnitt. Die Muthmaſſungen.
§. 25.
Ob ſich der Wohnſitz der Seele noch enger
einſchraͤnken laſſe.
Wir haben dieſe Frage in dem vorhergehenden Ab-
ſchnitte beruͤhret, da ſie von beruͤmten Maͤnnern durch
Verſuche, und nicht durch Gruͤnde beſtaͤtiget werden
wollte. Nunmehr erklaͤren wir uns uͤberhaupt, daß
man der Seele keine engere Wohnung, als der geſammte
Urſprung aller Nerven iſt, anweiſen muͤſſe, und es
ſteht uns nicht frei, der Seele irgend eine Stelle zur
Wohnung einzuraͤumen, wenn wir nicht alle Nerven zu
derſelben hinzufuͤhren vermoͤgend ſind. Man ſieht naͤmlich
leichtlich ein, daß von dem allgemeinen Empfindungs-
quelle, weder das Empfinden irgend eines Theilchen des
beſeelten Koͤrpers, noch irgend ein Nerve, der von irgend
einem Theile des Koͤrpers, den Eindruck der aͤuſſerlichen
Gegenſtaͤnde zuruͤcke fuͤhren muß, weit abliegen muͤſſe,
weil ſich alsdenn, wenn es einen ſolchen Nerven geben
ſollte, die Empfindung in der Seele nicht abbilden koͤnnte.
Und ſo iſt es auch mit den bewegenden Nerven beſchaf-
fen; denn es muͤſſen alle dieſe von dem gemeinſchaftli-
chen Empfindungsquelle entſpringen, um daraus die be-
wegende Kraͤfte ſchoͤpfen zu koͤnnen.
Daher kann die Hirnſchwiele auch ohne die oben
angefuͤhrte Verſuche
g, ſo wenig als die helle Scheide-
wand h, oder die ſehr kleine Zirbeldruͤſe i, die geſtreif-
ten Koͤrper k, oder irgend eine beſondere Gegend im
Gehirne, vor dem Wohnſitz der Seele gehalten werden.
Daß
g p. 344.
h Kenelm., Digby, Duncan.
apud Deidier. anat. p. 250. oder
am Grunde des Gewoͤlbes p. 25.
mit der Hirnſchwiele gemeinſchaft-
lich Teichmeyer. progr. 1729. ed.
i Carteſius, Muralt. colleg. p.
503. Gaukes med. mathem. p. 208.
Waldſchmid. de gland pin. wider
dieſe Meinung ſchreiben Hoboke-
nius, Duncan p. 21.
k Das ſenſorium commune
verlegt dahin Willis anim. brut.
c. 10. &c. Vieuſſens p. 125.
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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 4. Berlin, 1768, S. 623. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende04_1768/659>, abgerufen am 21.11.2024.
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