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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

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I. Abschnitt. Der Verstand.

Mit den Jahren wird eben dieses Gehirn immer fester,
und einigermassen hart. Und alsdann ist die Wirkung
der Empfindungen weniger schnell, und weniger stark,
es bleiben im Gegentheil die Spuren der Dinge zurükke,
und es ist nun diejenige Fähigkeit der Seele, welche man
Gedächtnis nennt, gemeiniglich seit dem achten Jahre,
und bisweilen noch früher, im vollkommnen Stande da.

Endlich wird das Gehirn gegen das funfzigste Jahr
immer härter und härter, so daß man diese Festigkeit bis-
weilen mit den Fingern, angehängten Gewichtern, und
dem Messer beweisen kann (x). Alsdann lassen sich die Spu-
ren der neuen Empfindungen, wie in eine harte Materie
mühsamer eindrükken (y); und sie bleiben darinnen we-
nig hängen. Dahingegen bleibt das Andenken von alten
Dingen, als ob es zugleich mit dem Gehirne verhärtet
worden, viel dauerhafter noch übrig. Wenn daher das
Gedächtnis, von einem Stosse an den Hinterkopfe ver-
schwunden, so kömmt dasselbe, mit der wieder erlangten
Gesundheit, von neuem wieder, und man erinnert sich der
längst vergangenen Dinge, nicht aber derjenigen wieder,
welche zu nächst vor denselben vorgefallen sind.

Endlich wenn das Gehirn abnimmt, und wie der
ganze Körper nach meiner Vermuthung, wegen der schar-
fen Säfte, und trägen Auswürfe, zu einer Fäulnis sich
neiget (z), so stellt sich dasjenige Alter ein, darinnen we-
der neue Empfindungen, noch alte mit einiger Dauer der
Seele vorgestellt werden, sondern der Greis, wird wie ein
Kind, bei den kleinsten Dingen gerührt, wenn man ihm
nicht Recht giebt, weinet er, und vergißt gleich darauf die
Ursache des Weinens (a) wieder. Wir lesen von einem

Greise,
(x) [Spaltenumbruch] Jn einem kindisch geword-
nen Menschen, war das Gehirn
trokken, gelb, zerreiblich, und die
ersten Anfänge der Nerven trokken,
und dünner, H. de HEERS obs. p. 45.
(y) TULP. L. IV. c. 15.
(z) [Spaltenumbruch] Es verzehrt und mindert sich.
HARTLEY p. 392.
(a) Vom MARLBOROUGHIO
ROBINSON spleen. p.
83. Unter
den Bewohnern der Mark, BEC-
MANNUS
häufig.
H. Phisiol. 5. B. X x x
I. Abſchnitt. Der Verſtand.

Mit den Jahren wird eben dieſes Gehirn immer feſter,
und einigermaſſen hart. Und alsdann iſt die Wirkung
der Empfindungen weniger ſchnell, und weniger ſtark,
es bleiben im Gegentheil die Spuren der Dinge zuruͤkke,
und es iſt nun diejenige Faͤhigkeit der Seele, welche man
Gedaͤchtnis nennt, gemeiniglich ſeit dem achten Jahre,
und bisweilen noch fruͤher, im vollkommnen Stande da.

Endlich wird das Gehirn gegen das funfzigſte Jahr
immer haͤrter und haͤrter, ſo daß man dieſe Feſtigkeit bis-
weilen mit den Fingern, angehaͤngten Gewichtern, und
dem Meſſer beweiſen kann (x). Alsdann laſſen ſich die Spu-
ren der neuen Empfindungen, wie in eine harte Materie
muͤhſamer eindruͤkken (y); und ſie bleiben darinnen we-
nig haͤngen. Dahingegen bleibt das Andenken von alten
Dingen, als ob es zugleich mit dem Gehirne verhaͤrtet
worden, viel dauerhafter noch uͤbrig. Wenn daher das
Gedaͤchtnis, von einem Stoſſe an den Hinterkopfe ver-
ſchwunden, ſo koͤmmt daſſelbe, mit der wieder erlangten
Geſundheit, von neuem wieder, und man erinnert ſich der
laͤngſt vergangenen Dinge, nicht aber derjenigen wieder,
welche zu naͤchſt vor denſelben vorgefallen ſind.

Endlich wenn das Gehirn abnimmt, und wie der
ganze Koͤrper nach meiner Vermuthung, wegen der ſchar-
fen Saͤfte, und traͤgen Auswuͤrfe, zu einer Faͤulnis ſich
neiget (z), ſo ſtellt ſich dasjenige Alter ein, darinnen we-
der neue Empfindungen, noch alte mit einiger Dauer der
Seele vorgeſtellt werden, ſondern der Greis, wird wie ein
Kind, bei den kleinſten Dingen geruͤhrt, wenn man ihm
nicht Recht giebt, weinet er, und vergißt gleich darauf die
Urſache des Weinens (a) wieder. Wir leſen von einem

Greiſe,
(x) [Spaltenumbruch] Jn einem kindiſch geword-
nen Menſchen, war das Gehirn
trokken, gelb, zerreiblich, und die
erſten Anfaͤnge der Nerven trokken,
und duͤnner, H. de HEERS obſ. p. 45.
(y) TULP. L. IV. c. 15.
(z) [Spaltenumbruch] Es verzehrt und mindert ſich.
HARTLEY p. 392.
(a) Vom MARLBOROUGHIO
ROBINSON ſpleen. p.
83. Unter
den Bewohnern der Mark, BEC-
MANNUS
haͤufig.
H. Phiſiol. 5. B. X x x
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[1057/1075] I. Abſchnitt. Der Verſtand. Mit den Jahren wird eben dieſes Gehirn immer feſter, und einigermaſſen hart. Und alsdann iſt die Wirkung der Empfindungen weniger ſchnell, und weniger ſtark, es bleiben im Gegentheil die Spuren der Dinge zuruͤkke, und es iſt nun diejenige Faͤhigkeit der Seele, welche man Gedaͤchtnis nennt, gemeiniglich ſeit dem achten Jahre, und bisweilen noch fruͤher, im vollkommnen Stande da. Endlich wird das Gehirn gegen das funfzigſte Jahr immer haͤrter und haͤrter, ſo daß man dieſe Feſtigkeit bis- weilen mit den Fingern, angehaͤngten Gewichtern, und dem Meſſer beweiſen kann (x). Alsdann laſſen ſich die Spu- ren der neuen Empfindungen, wie in eine harte Materie muͤhſamer eindruͤkken (y); und ſie bleiben darinnen we- nig haͤngen. Dahingegen bleibt das Andenken von alten Dingen, als ob es zugleich mit dem Gehirne verhaͤrtet worden, viel dauerhafter noch uͤbrig. Wenn daher das Gedaͤchtnis, von einem Stoſſe an den Hinterkopfe ver- ſchwunden, ſo koͤmmt daſſelbe, mit der wieder erlangten Geſundheit, von neuem wieder, und man erinnert ſich der laͤngſt vergangenen Dinge, nicht aber derjenigen wieder, welche zu naͤchſt vor denſelben vorgefallen ſind. Endlich wenn das Gehirn abnimmt, und wie der ganze Koͤrper nach meiner Vermuthung, wegen der ſchar- fen Saͤfte, und traͤgen Auswuͤrfe, zu einer Faͤulnis ſich neiget (z), ſo ſtellt ſich dasjenige Alter ein, darinnen we- der neue Empfindungen, noch alte mit einiger Dauer der Seele vorgeſtellt werden, ſondern der Greis, wird wie ein Kind, bei den kleinſten Dingen geruͤhrt, wenn man ihm nicht Recht giebt, weinet er, und vergißt gleich darauf die Urſache des Weinens (a) wieder. Wir leſen von einem Greiſe, (x) Jn einem kindiſch geword- nen Menſchen, war das Gehirn trokken, gelb, zerreiblich, und die erſten Anfaͤnge der Nerven trokken, und duͤnner, H. de HEERS obſ. p. 45. (y) TULP. L. IV. c. 15. (z) Es verzehrt und mindert ſich. HARTLEY p. 392. (a) Vom MARLBOROUGHIO ROBINSON ſpleen. p. 83. Unter den Bewohnern der Mark, BEC- MANNUS haͤufig. H. Phiſiol. 5. B. X x x

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Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1057. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1075>, abgerufen am 23.11.2024.