Bewegung entstehen, und vor kurzem (x) kleine Schwin- gungen genannt worden. Es läst sich nämlich auf keiner- lei Art begreiflich machen, wie in einem weichen Gehirne, nach dem funfzigsten Jahre, von der im Kinde ein ein- zigesmal entstandner Bewegung, eine Schwingung übrig bleiben könne, und daß diese Bewegung niemals ruhig gewesen. Folglich hinterlassen die Empfindungen Spu- ren nach sich, es mögen dieselben nun, auf welche Art man wolle, im Gehirne hängen bleiben.
Die Natur dieser Spuren ist so beschaffen, daß sich die Seele, so oft sie will, auf dieselbe wieder besinnen kann, so lange sie noch vollständig, oder unverstümmelt und lebhaft sind. Asien macht sich an den fünf Buch- staben kenntlich. Jch verlange den Nahmen von dem grösten Theile unsrer Erdkugel zu wissen; so gleich fällt mir der Nahme Asien willig ein. Jch will seine Theile, Grenzen, Meere, Reiche und Kaiserthümer wissen: und ich kann mir eine unvollkommne, aber sich doch ziemlich ähnliche Landkarte von Asien vorstellen, und zu wege brin- gen, daß sich die Seele dieselbe zu erklären scheint. Auf solche Art habe ich mir bei den Nahmen das Merkmaal, und bei der eingebildeten Landkarte, nach Belieben die Em- pfindung wieder ins Gedächtnis gerufen. Gemeiniglich ist sich die Seele bei diesem Geschäfte bewust, daß sie sich dieser Jdeen vermöge ihres Gedächtnisses erinnert habe, daß sie sie ehedem sinnlich empfunden (y); ich sage, ge- meiniglich, denn mit den Jahren werden diese rükkehrende Spuren sehr schwach, und man erinnert sich nicht dabei, daß man sie lange Zeit im Gedächtnisse aufbehalten habe.
Oft dringen sich, so zu reden auch die Spuren der Dinge uns von selbst auf (z), und es geschicht nicht sel- ten, daß uns starke Jdeen, wenigstens eine Zeit lang, zur Unzeit auf dem Fusse verfolgen, und von unsrer Seele
Auf-
(x)[Spaltenumbruch]HARTLEY p. 59 &c.
(y)BONNET p 60. 63.
(z)[Spaltenumbruch]IDEM p. 261.
Der Verſtand. XVII. Buch.
Bewegung entſtehen, und vor kurzem (x) kleine Schwin- gungen genannt worden. Es laͤſt ſich naͤmlich auf keiner- lei Art begreiflich machen, wie in einem weichen Gehirne, nach dem funfzigſten Jahre, von der im Kinde ein ein- zigesmal entſtandner Bewegung, eine Schwingung uͤbrig bleiben koͤnne, und daß dieſe Bewegung niemals ruhig geweſen. Folglich hinterlaſſen die Empfindungen Spu- ren nach ſich, es moͤgen dieſelben nun, auf welche Art man wolle, im Gehirne haͤngen bleiben.
Die Natur dieſer Spuren iſt ſo beſchaffen, daß ſich die Seele, ſo oft ſie will, auf dieſelbe wieder beſinnen kann, ſo lange ſie noch vollſtaͤndig, oder unverſtuͤmmelt und lebhaft ſind. Aſien macht ſich an den fuͤnf Buch- ſtaben kenntlich. Jch verlange den Nahmen von dem groͤſten Theile unſrer Erdkugel zu wiſſen; ſo gleich faͤllt mir der Nahme Aſien willig ein. Jch will ſeine Theile, Grenzen, Meere, Reiche und Kaiſerthuͤmer wiſſen: und ich kann mir eine unvollkommne, aber ſich doch ziemlich aͤhnliche Landkarte von Aſien vorſtellen, und zu wege brin- gen, daß ſich die Seele dieſelbe zu erklaͤren ſcheint. Auf ſolche Art habe ich mir bei den Nahmen das Merkmaal, und bei der eingebildeten Landkarte, nach Belieben die Em- pfindung wieder ins Gedaͤchtnis gerufen. Gemeiniglich iſt ſich die Seele bei dieſem Geſchaͤfte bewuſt, daß ſie ſich dieſer Jdeen vermoͤge ihres Gedaͤchtniſſes erinnert habe, daß ſie ſie ehedem ſinnlich empfunden (y); ich ſage, ge- meiniglich, denn mit den Jahren werden dieſe ruͤkkehrende Spuren ſehr ſchwach, und man erinnert ſich nicht dabei, daß man ſie lange Zeit im Gedaͤchtniſſe aufbehalten habe.
Oft dringen ſich, ſo zu reden auch die Spuren der Dinge uns von ſelbſt auf (z), und es geſchicht nicht ſel- ten, daß uns ſtarke Jdeen, wenigſtens eine Zeit lang, zur Unzeit auf dem Fuſſe verfolgen, und von unſrer Seele
Auf-
(x)[Spaltenumbruch]HARTLEY p. 59 &c.
(y)BONNET p 60. 63.
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Der Verſtand. XVII. Buch.
Bewegung entſtehen, und vor kurzem (x) kleine Schwin-
gungen genannt worden. Es laͤſt ſich naͤmlich auf keiner-
lei Art begreiflich machen, wie in einem weichen Gehirne,
nach dem funfzigſten Jahre, von der im Kinde ein ein-
zigesmal entſtandner Bewegung, eine Schwingung uͤbrig
bleiben koͤnne, und daß dieſe Bewegung niemals ruhig
geweſen. Folglich hinterlaſſen die Empfindungen Spu-
ren nach ſich, es moͤgen dieſelben nun, auf welche Art
man wolle, im Gehirne haͤngen bleiben.
Die Natur dieſer Spuren iſt ſo beſchaffen, daß ſich
die Seele, ſo oft ſie will, auf dieſelbe wieder beſinnen
kann, ſo lange ſie noch vollſtaͤndig, oder unverſtuͤmmelt
und lebhaft ſind. Aſien macht ſich an den fuͤnf Buch-
ſtaben kenntlich. Jch verlange den Nahmen von dem
groͤſten Theile unſrer Erdkugel zu wiſſen; ſo gleich faͤllt
mir der Nahme Aſien willig ein. Jch will ſeine Theile,
Grenzen, Meere, Reiche und Kaiſerthuͤmer wiſſen: und
ich kann mir eine unvollkommne, aber ſich doch ziemlich
aͤhnliche Landkarte von Aſien vorſtellen, und zu wege brin-
gen, daß ſich die Seele dieſelbe zu erklaͤren ſcheint. Auf
ſolche Art habe ich mir bei den Nahmen das Merkmaal,
und bei der eingebildeten Landkarte, nach Belieben die Em-
pfindung wieder ins Gedaͤchtnis gerufen. Gemeiniglich
iſt ſich die Seele bei dieſem Geſchaͤfte bewuſt, daß ſie ſich
dieſer Jdeen vermoͤge ihres Gedaͤchtniſſes erinnert habe,
daß ſie ſie ehedem ſinnlich empfunden (y); ich ſage, ge-
meiniglich, denn mit den Jahren werden dieſe ruͤkkehrende
Spuren ſehr ſchwach, und man erinnert ſich nicht dabei,
daß man ſie lange Zeit im Gedaͤchtniſſe aufbehalten habe.
Oft dringen ſich, ſo zu reden auch die Spuren der
Dinge uns von ſelbſt auf (z), und es geſchicht nicht ſel-
ten, daß uns ſtarke Jdeen, wenigſtens eine Zeit lang,
zur Unzeit auf dem Fuſſe verfolgen, und von unſrer Seele
Auf-
(x)
HARTLEY p. 59 &c.
(y) BONNET p 60. 63.
(z)
IDEM p. 261.
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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1062. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1080>, abgerufen am 23.11.2024.
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