§. 11. Die Fähigkeit der Seele. Die Denkungskraft.
Kartesius hat von dem Denken (x) das Wesen der Seele hergeleitet. Andre läugnen, daß die Seele bestän- dig dächte, ob sie gleich gestehen, daß sie gemeiniglich (y) denkt. Sie führen dabei die Ohnmachten, den tiefen Schlaf, die Schlagflüsse, davon jemand innerhalb sechs Monaten unfähig war zu denken (z), worauf die Seele, als ob indessen nicht das mindeste mit ihr vorgegangen, noch eine Zwischenzeit da gewesen, wieder erwachte; man beziehet sich ferner auf das Exempel einer kataleptischen Frauensperson, welche ein Gespräche, so sie in dem An- falle der Krankheit abbrach, an der gehörigen Stelle wei- ter fortsezzte, wo man es abgebrochen hatte (a). Mar- quet, welcher ein und zwanzig Tage lang im Wahnwizze zu gebracht hatte, und nun wieder gesund wurde, konnte sich kaum überreden lassen, daß die Krankheit 24 Stun- den gewäret hätte, denn es hatte die Krankheit die übri- ge Spuren ausgelöscht (b).
Doch es ist nicht glaublich, daß die Seele nicht im Schlafe denken sollte. Sie beunruhigt sich gemeiniglich im Menschen und in Thieren mit Träumen, und wenn es scheint, daß diese mangeln, so können doch sanftere Träu- me vorhanden sein, die keine Spuren von sich zurükke lassen. Wenigstens werden wir zeigen, daß wir durch eine Demmerung von Wahnwizze (Phantasie) zum Schla- fe übergehen; und dieses ist kein Zustand einer unwirksa- men trägen Seele. Doch es sind auch Frauenspersonen in ihren Ohnmachten (c) nicht ohne Gedanken, und wenn ich sie befragte, so erzählten sie mir öfters, daß sie gehö- ret, und gleichsam von weiten unter einander redende
Freunde
(x)[Spaltenumbruch]
Die Seele ist fähig zu den- ken. BONNET p. 74-
(y)SAUVAGES physiol. p. 145.
(z)Histolte de l'Acad. 1719.
(a)[Spaltenumbruch]
Ebender. anno. 1705. p. 50.
(b)Observ. p. 193.
(c)TRALLES hom. machin. pag. 218.
Der Verſtand. XVII. Buch.
§. 11. Die Faͤhigkeit der Seele. Die Denkungskraft.
Karteſius hat von dem Denken (x) das Weſen der Seele hergeleitet. Andre laͤugnen, daß die Seele beſtaͤn- dig daͤchte, ob ſie gleich geſtehen, daß ſie gemeiniglich (y) denkt. Sie fuͤhren dabei die Ohnmachten, den tiefen Schlaf, die Schlagfluͤſſe, davon jemand innerhalb ſechs Monaten unfaͤhig war zu denken (z), worauf die Seele, als ob indeſſen nicht das mindeſte mit ihr vorgegangen, noch eine Zwiſchenzeit da geweſen, wieder erwachte; man beziehet ſich ferner auf das Exempel einer kataleptiſchen Frauensperſon, welche ein Geſpraͤche, ſo ſie in dem An- falle der Krankheit abbrach, an der gehoͤrigen Stelle wei- ter fortſezzte, wo man es abgebrochen hatte (a). Mar- quet, welcher ein und zwanzig Tage lang im Wahnwizze zu gebracht hatte, und nun wieder geſund wurde, konnte ſich kaum uͤberreden laſſen, daß die Krankheit 24 Stun- den gewaͤret haͤtte, denn es hatte die Krankheit die uͤbri- ge Spuren ausgeloͤſcht (b).
Doch es iſt nicht glaublich, daß die Seele nicht im Schlafe denken ſollte. Sie beunruhigt ſich gemeiniglich im Menſchen und in Thieren mit Traͤumen, und wenn es ſcheint, daß dieſe mangeln, ſo koͤnnen doch ſanftere Traͤu- me vorhanden ſein, die keine Spuren von ſich zuruͤkke laſſen. Wenigſtens werden wir zeigen, daß wir durch eine Demmerung von Wahnwizze (Phantaſie) zum Schla- fe uͤbergehen; und dieſes iſt kein Zuſtand einer unwirkſa- men traͤgen Seele. Doch es ſind auch Frauensperſonen in ihren Ohnmachten (c) nicht ohne Gedanken, und wenn ich ſie befragte, ſo erzaͤhlten ſie mir oͤfters, daß ſie gehoͤ- ret, und gleichſam von weiten unter einander redende
Freunde
(x)[Spaltenumbruch]
Die Seele iſt faͤhig zu den- ken. BONNET p. 74-
(y)SAUVAGES phyſiol. p. 145.
(z)Hiſtolte de l’Acad. 1719.
(a)[Spaltenumbruch]
Ebender. anno. 1705. p. 50.
(b)Obſerv. p. 193.
(c)TRALLES hom. machin. pag. 218.
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Der Verſtand. XVII. Buch.
§. 11.
Die Faͤhigkeit der Seele. Die Denkungskraft.
Karteſius hat von dem Denken (x) das Weſen der
Seele hergeleitet. Andre laͤugnen, daß die Seele beſtaͤn-
dig daͤchte, ob ſie gleich geſtehen, daß ſie gemeiniglich (y)
denkt. Sie fuͤhren dabei die Ohnmachten, den tiefen
Schlaf, die Schlagfluͤſſe, davon jemand innerhalb ſechs
Monaten unfaͤhig war zu denken (z), worauf die Seele,
als ob indeſſen nicht das mindeſte mit ihr vorgegangen,
noch eine Zwiſchenzeit da geweſen, wieder erwachte; man
beziehet ſich ferner auf das Exempel einer kataleptiſchen
Frauensperſon, welche ein Geſpraͤche, ſo ſie in dem An-
falle der Krankheit abbrach, an der gehoͤrigen Stelle wei-
ter fortſezzte, wo man es abgebrochen hatte (a). Mar-
quet, welcher ein und zwanzig Tage lang im Wahnwizze
zu gebracht hatte, und nun wieder geſund wurde, konnte
ſich kaum uͤberreden laſſen, daß die Krankheit 24 Stun-
den gewaͤret haͤtte, denn es hatte die Krankheit die uͤbri-
ge Spuren ausgeloͤſcht (b).
Doch es iſt nicht glaublich, daß die Seele nicht im
Schlafe denken ſollte. Sie beunruhigt ſich gemeiniglich
im Menſchen und in Thieren mit Traͤumen, und wenn es
ſcheint, daß dieſe mangeln, ſo koͤnnen doch ſanftere Traͤu-
me vorhanden ſein, die keine Spuren von ſich zuruͤkke
laſſen. Wenigſtens werden wir zeigen, daß wir durch
eine Demmerung von Wahnwizze (Phantaſie) zum Schla-
fe uͤbergehen; und dieſes iſt kein Zuſtand einer unwirkſa-
men traͤgen Seele. Doch es ſind auch Frauensperſonen
in ihren Ohnmachten (c) nicht ohne Gedanken, und wenn
ich ſie befragte, ſo erzaͤhlten ſie mir oͤfters, daß ſie gehoͤ-
ret, und gleichſam von weiten unter einander redende
Freunde
(x)
Die Seele iſt faͤhig zu den-
ken. BONNET p. 74-
(y) SAUVAGES phyſiol. p. 145.
(z) Hiſtolte de l’Acad. 1719.
(a)
Ebender. anno. 1705. p. 50.
(b) Obſerv. p. 193.
(c) TRALLES hom. machin.
pag. 218.
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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1078. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1096>, abgerufen am 23.11.2024.
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