Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Verstand. XVII. Buch.

Wenn nun die Schranken der Seele so enge sind,
daß sie eine einzige Art von Dingen deutlich und klar em-
pfinden kann; so folget daraus, daß sie sich, wenn sie
zugleich mehrere sich vorstellen will, keine einzige vollstän-
dig, und lebhaft vorstellen kann. Folglich ist dazu eine
Aufmerksamkeit nothwendig, wenn eine Jdee eine Zeit-
lang der Seele gegenwärtig, ganz allein, und lebhaft
ihr Bild der Seele vorhalten soll. Und es wird eine
Aufmerksamkeit um desto nothwendiger sein, wenn eine
Jdee, die aus vielen Theilen besteht, vollständig sein soll.
Dergleichen Begriff wird niemals vollkommen empfunden
werden, wofern nicht diese Theile alle, und einzeln der
Seele klar bekannt sind: folglich gehört dazu eine Auf-
merksamkeit, oder eine Entfernung aller fremden Jdeen.
Davon kam es, daß Wallisius (x), im Dunkeln die
bewundernswürdige Rechnungen, und bei ruhigen Augen
die grosse Geschäfte des Gedächtnisses Bonnet zu ver-
richten vermochte (y). Und daher wirken bei denen, wel-
chen es an einem Sinne fehlt, die übrigen Sinne desto
stärker. Blinde lernen öfters singen (z), und die Laute
spielen, schnizzen, daß sie auch Bilder nach dem Gefühl
ähnlich verfertigen (z*): andre konnten mahlen (z**), und
andre alle Geschäfte des Lebens mit Ruhm verrichten (a),
so wie einige sich die Gelehrsamkeit erwarben (a*), und
Saunderson ein Blinder die Mathematik lehren konnte.
Sie befinden sich nämlich in beständigen Finsternissen, und
werden von keinem Gesichte zerstreut. Ein Taub- und

Stumm-
(x) [Spaltenumbruch] pag. 548.
(y) ibidem.
(z) Ein blinder Musicus PECH-
LIN ibid.
(z*) SERVIUS unguent. armar.
p. 60 61. GANNIBASIUS
beim
KIRCHNER cit in Nov. de la Re-
publ. des lettres 1685. p.
1165.
(z**) ALBERTI jurisprud.
Med. leg. T. VI. p.
657
(a) Vom blinden SCHOEN-
BERGERO
besiehe T. BARTHO-
[Spaltenumbruch] LINUS Hist. 45. Cent. III. add.
HILDANUS de anat p.
85. Ein
Blinder erlernte ganze Predigten.
PECHLINI Hist. III. obs. 8. Blin-
de hören besser. KAAUW n. 1098.
seqq.
(a*) NARDI noct. genial. I. p.
32. NICASIUS de VOERDE
ein
vom dritten Jahre an Blinder,
schwang sich durch seinen Verstand
zu den höchsten Kirchenwürden.
Der Verſtand. XVII. Buch.

Wenn nun die Schranken der Seele ſo enge ſind,
daß ſie eine einzige Art von Dingen deutlich und klar em-
pfinden kann; ſo folget daraus, daß ſie ſich, wenn ſie
zugleich mehrere ſich vorſtellen will, keine einzige vollſtaͤn-
dig, und lebhaft vorſtellen kann. Folglich iſt dazu eine
Aufmerkſamkeit nothwendig, wenn eine Jdee eine Zeit-
lang der Seele gegenwaͤrtig, ganz allein, und lebhaft
ihr Bild der Seele vorhalten ſoll. Und es wird eine
Aufmerkſamkeit um deſto nothwendiger ſein, wenn eine
Jdee, die aus vielen Theilen beſteht, vollſtaͤndig ſein ſoll.
Dergleichen Begriff wird niemals vollkommen empfunden
werden, wofern nicht dieſe Theile alle, und einzeln der
Seele klar bekannt ſind: folglich gehoͤrt dazu eine Auf-
merkſamkeit, oder eine Entfernung aller fremden Jdeen.
Davon kam es, daß Walliſius (x), im Dunkeln die
bewundernswuͤrdige Rechnungen, und bei ruhigen Augen
die groſſe Geſchaͤfte des Gedaͤchtniſſes Bonnet zu ver-
richten vermochte (y). Und daher wirken bei denen, wel-
chen es an einem Sinne fehlt, die uͤbrigen Sinne deſto
ſtaͤrker. Blinde lernen oͤfters ſingen (z), und die Laute
ſpielen, ſchnizzen, daß ſie auch Bilder nach dem Gefuͤhl
aͤhnlich verfertigen (z*): andre konnten mahlen (z**), und
andre alle Geſchaͤfte des Lebens mit Ruhm verrichten (a),
ſo wie einige ſich die Gelehrſamkeit erwarben (a*), und
Saunderſon ein Blinder die Mathematik lehren konnte.
Sie befinden ſich naͤmlich in beſtaͤndigen Finſterniſſen, und
werden von keinem Geſichte zerſtreut. Ein Taub- und

Stumm-
(x) [Spaltenumbruch] pag. 548.
(y) ibidem.
(z) Ein blinder Muſicus PECH-
LIN ibid.
(z*) SERVIUS unguent. armar.
p. 60 61. GANNIBASIUS
beim
KIRCHNER cit in Nov. de la Ré-
publ. des lettres 1685. p.
1165.
(z**) ALBERTI jurisprud.
Med. leg. T. VI. p.
657
(a) Vom blinden SCHOEN-
BERGERO
beſiehe T. BARTHO-
[Spaltenumbruch] LINUS Hiſt. 45. Cent. III. add.
HILDANUS de anat p.
85. Ein
Blinder erlernte ganze Predigten.
PECHLINI Hiſt. III. obſ. 8. Blin-
de hoͤren beſſer. KAAUW n. 1098.
ſeqq.
(a*) NARDI noct. genial. I. p.
32. NICASIUS de VOERDE
ein
vom dritten Jahre an Blinder,
ſchwang ſich durch ſeinen Verſtand
zu den hoͤchſten Kirchenwuͤrden.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f1100" n="1082"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Der Ver&#x017F;tand. <hi rendition="#aq">XVII.</hi> Buch.</hi> </fw><lb/>
            <p>Wenn nun die Schranken der Seele &#x017F;o enge &#x017F;ind,<lb/>
daß &#x017F;ie eine einzige Art von Dingen deutlich und klar em-<lb/>
pfinden kann; &#x017F;o folget daraus, daß &#x017F;ie &#x017F;ich, wenn &#x017F;ie<lb/>
zugleich mehrere &#x017F;ich vor&#x017F;tellen will, keine einzige voll&#x017F;ta&#x0364;n-<lb/>
dig, und lebhaft vor&#x017F;tellen kann. Folglich i&#x017F;t dazu eine<lb/>
Aufmerk&#x017F;amkeit nothwendig, wenn eine Jdee eine Zeit-<lb/>
lang der Seele gegenwa&#x0364;rtig, ganz allein, und lebhaft<lb/>
ihr Bild der Seele vorhalten &#x017F;oll. Und es wird eine<lb/>
Aufmerk&#x017F;amkeit um de&#x017F;to nothwendiger &#x017F;ein, wenn eine<lb/>
Jdee, die aus vielen Theilen be&#x017F;teht, voll&#x017F;ta&#x0364;ndig &#x017F;ein &#x017F;oll.<lb/>
Dergleichen Begriff wird niemals vollkommen empfunden<lb/>
werden, wofern nicht die&#x017F;e Theile alle, und einzeln der<lb/>
Seele klar bekannt &#x017F;ind: folglich geho&#x0364;rt dazu eine Auf-<lb/>
merk&#x017F;amkeit, oder eine Entfernung aller fremden Jdeen.<lb/>
Davon kam es, daß <hi rendition="#fr">Walli&#x017F;ius</hi> <note place="foot" n="(x)"><cb/><hi rendition="#aq">pag.</hi> 548.</note>, im Dunkeln die<lb/>
bewundernswu&#x0364;rdige Rechnungen, und bei ruhigen Augen<lb/>
die gro&#x017F;&#x017F;e Ge&#x017F;cha&#x0364;fte des Geda&#x0364;chtni&#x017F;&#x017F;es <hi rendition="#fr">Bonnet</hi> zu ver-<lb/>
richten vermochte <note place="foot" n="(y)"><hi rendition="#aq">ibidem.</hi></note>. Und daher wirken bei denen, wel-<lb/>
chen es an einem Sinne fehlt, die u&#x0364;brigen Sinne de&#x017F;to<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;rker. Blinde lernen o&#x0364;fters &#x017F;ingen <note place="foot" n="(z)">Ein blinder <hi rendition="#aq">Mu&#x017F;icus PECH-<lb/>
LIN ibid.</hi></note>, und die Laute<lb/>
&#x017F;pielen, &#x017F;chnizzen, daß &#x017F;ie auch Bilder nach dem Gefu&#x0364;hl<lb/>
a&#x0364;hnlich verfertigen <note place="foot" n="(z*)"><hi rendition="#aq">SERVIUS unguent. armar.<lb/>
p. 60 61. GANNIBASIUS</hi> beim<lb/><hi rendition="#aq">KIRCHNER cit in Nov. de la Ré-<lb/>
publ. des lettres 1685. p.</hi> 1165.</note>: andre konnten mahlen <note place="foot" n="(z**)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">ALBERTI</hi> jurisprud.<lb/>
Med. leg. T. VI. p.</hi> 657</note>, und<lb/>
andre alle Ge&#x017F;cha&#x0364;fte des Lebens mit Ruhm verrichten <note place="foot" n="(a)">Vom blinden <hi rendition="#aq">SCHOEN-<lb/>
BERGERO</hi> be&#x017F;iehe <hi rendition="#aq">T. BARTHO-<lb/><cb/>
LINUS Hi&#x017F;t. 45. Cent. III. add.<lb/>
HILDANUS de anat p.</hi> 85. Ein<lb/>
Blinder erlernte ganze Predigten.<lb/><hi rendition="#aq">PECHLINI Hi&#x017F;t. III. ob&#x017F;.</hi> 8. Blin-<lb/>
de ho&#x0364;ren be&#x017F;&#x017F;er. <hi rendition="#aq">KAAUW n. 1098.<lb/>
&#x017F;eqq.</hi></note>,<lb/>
&#x017F;o wie einige &#x017F;ich die Gelehr&#x017F;amkeit erwarben <note place="foot" n="(a*)"><hi rendition="#aq">NARDI noct. genial. I. p.<lb/>
32. NICASIUS de VOERDE</hi> ein<lb/>
vom dritten Jahre an Blinder,<lb/>
&#x017F;chwang &#x017F;ich durch &#x017F;einen Ver&#x017F;tand<lb/>
zu den ho&#x0364;ch&#x017F;ten Kirchenwu&#x0364;rden.</note>, und<lb/><hi rendition="#fr">Saunder&#x017F;on</hi> ein Blinder die Mathematik lehren konnte.<lb/>
Sie befinden &#x017F;ich na&#x0364;mlich in be&#x017F;ta&#x0364;ndigen Fin&#x017F;terni&#x017F;&#x017F;en, und<lb/>
werden von keinem Ge&#x017F;ichte zer&#x017F;treut. Ein Taub- und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Stumm-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1082/1100] Der Verſtand. XVII. Buch. Wenn nun die Schranken der Seele ſo enge ſind, daß ſie eine einzige Art von Dingen deutlich und klar em- pfinden kann; ſo folget daraus, daß ſie ſich, wenn ſie zugleich mehrere ſich vorſtellen will, keine einzige vollſtaͤn- dig, und lebhaft vorſtellen kann. Folglich iſt dazu eine Aufmerkſamkeit nothwendig, wenn eine Jdee eine Zeit- lang der Seele gegenwaͤrtig, ganz allein, und lebhaft ihr Bild der Seele vorhalten ſoll. Und es wird eine Aufmerkſamkeit um deſto nothwendiger ſein, wenn eine Jdee, die aus vielen Theilen beſteht, vollſtaͤndig ſein ſoll. Dergleichen Begriff wird niemals vollkommen empfunden werden, wofern nicht dieſe Theile alle, und einzeln der Seele klar bekannt ſind: folglich gehoͤrt dazu eine Auf- merkſamkeit, oder eine Entfernung aller fremden Jdeen. Davon kam es, daß Walliſius (x), im Dunkeln die bewundernswuͤrdige Rechnungen, und bei ruhigen Augen die groſſe Geſchaͤfte des Gedaͤchtniſſes Bonnet zu ver- richten vermochte (y). Und daher wirken bei denen, wel- chen es an einem Sinne fehlt, die uͤbrigen Sinne deſto ſtaͤrker. Blinde lernen oͤfters ſingen (z), und die Laute ſpielen, ſchnizzen, daß ſie auch Bilder nach dem Gefuͤhl aͤhnlich verfertigen (z*): andre konnten mahlen (z**), und andre alle Geſchaͤfte des Lebens mit Ruhm verrichten (a), ſo wie einige ſich die Gelehrſamkeit erwarben (a*), und Saunderſon ein Blinder die Mathematik lehren konnte. Sie befinden ſich naͤmlich in beſtaͤndigen Finſterniſſen, und werden von keinem Geſichte zerſtreut. Ein Taub- und Stumm- (x) pag. 548. (y) ibidem. (z) Ein blinder Muſicus PECH- LIN ibid. (z*) SERVIUS unguent. armar. p. 60 61. GANNIBASIUS beim KIRCHNER cit in Nov. de la Ré- publ. des lettres 1685. p. 1165. (z**) ALBERTI jurisprud. Med. leg. T. VI. p. 657 (a) Vom blinden SCHOEN- BERGERO beſiehe T. BARTHO- LINUS Hiſt. 45. Cent. III. add. HILDANUS de anat p. 85. Ein Blinder erlernte ganze Predigten. PECHLINI Hiſt. III. obſ. 8. Blin- de hoͤren beſſer. KAAUW n. 1098. ſeqq. (a*) NARDI noct. genial. I. p. 32. NICASIUS de VOERDE ein vom dritten Jahre an Blinder, ſchwang ſich durch ſeinen Verſtand zu den hoͤchſten Kirchenwuͤrden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1100
Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1082. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1100>, abgerufen am 22.11.2024.