Wir haben gesagt, daß ein gelinder Schmerz bestän- dig, und die Wollust seltener, dennoch aber häufiger sei, als ein beschwerlicher Schmerz. Jch kann nicht sagen, ob bei der Empfindung unsrer Exsistenz (x), einige Wollust statt finde. Doch ist sie beim Essen, und Trinken; und so oft wir dem Verlangen unsrer Natur ein Genügen lei- sten, z. E. wenn wir frische Luft athmen, oder auf schwe- re Arbeiten ruhen.
Doch finde ich nicht, daß bei allen Empfindungen (y), entweder Wollust, oder Schmerz gegenwärtig ist. Ein Dreiekk, welches ich betrachte, erregt keines von bei- den in mir (z).
Jch finde im Schmerz und dem Vergnügen, deutliche Spuren von der göttlichen Weisheit. Der Schmerz er- innert uns, Krankheiten zu meiden, und Verwundungen zu verhüten. Das Vergnügen ist uns von der Liebe des Schöpfers zu solchen Geschäften geschenkt worden, die uns entweder selbst zuträglich sind, als im Essen und Trinken geschicht, oder die das menschliche Geschlecht er- halten helfen, als in der Begattung. Der Schöpfer hat es stärker, und in den männlichen Geschöpfen fast unbe- zwingbar gemacht, damit sie die weiblichen Gegenstände überreden, oder zwingen sollen. Nur mit dem Unter- schiede, da die meisten Thiere in der Ehe nicht dauren, und die Erziehung der Jungen in kurzer Zeit geendigt ist, so hat der Schöpfer den unvernünftigen Thieren zu die- ser Begierde gewisse Zeiten im Jahre zugelassen, doch dem Menschen keine vorgeschrieben, weil dieser für die Ehe ge- macht, unter allen Thieren am längsten ein Kind, und fremder Hülfe bedürftig ist. Daher findet man, so viel man aus allen Reisebeschreibungen sehen kann, keine ein-
zige
(x)[Spaltenumbruch]MULLER Entwurf. &c. T. II. n. 88.
(y)BATTIE on madness. p. 27. [unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]ARTLEY pag. 41. BONNET pag. 409.
(z)[Spaltenumbruch]
Beide unterscheiden sich von der Empfindung. Mem. de Berlin T. XIII. p. 389.
Der Wille. XVII. Buch.
Wir haben geſagt, daß ein gelinder Schmerz beſtaͤn- dig, und die Wolluſt ſeltener, dennoch aber haͤufiger ſei, als ein beſchwerlicher Schmerz. Jch kann nicht ſagen, ob bei der Empfindung unſrer Exſiſtenz (x), einige Wolluſt ſtatt finde. Doch iſt ſie beim Eſſen, und Trinken; und ſo oft wir dem Verlangen unſrer Natur ein Genuͤgen lei- ſten, z. E. wenn wir friſche Luft athmen, oder auf ſchwe- re Arbeiten ruhen.
Doch finde ich nicht, daß bei allen Empfindungen (y), entweder Wolluſt, oder Schmerz gegenwaͤrtig iſt. Ein Dreiekk, welches ich betrachte, erregt keines von bei- den in mir (z).
Jch finde im Schmerz und dem Vergnuͤgen, deutliche Spuren von der goͤttlichen Weisheit. Der Schmerz er- innert uns, Krankheiten zu meiden, und Verwundungen zu verhuͤten. Das Vergnuͤgen iſt uns von der Liebe des Schoͤpfers zu ſolchen Geſchaͤften geſchenkt worden, die uns entweder ſelbſt zutraͤglich ſind, als im Eſſen und Trinken geſchicht, oder die das menſchliche Geſchlecht er- halten helfen, als in der Begattung. Der Schoͤpfer hat es ſtaͤrker, und in den maͤnnlichen Geſchoͤpfen faſt unbe- zwingbar gemacht, damit ſie die weiblichen Gegenſtaͤnde uͤberreden, oder zwingen ſollen. Nur mit dem Unter- ſchiede, da die meiſten Thiere in der Ehe nicht dauren, und die Erziehung der Jungen in kurzer Zeit geendigt iſt, ſo hat der Schoͤpfer den unvernuͤnftigen Thieren zu die- ſer Begierde gewiſſe Zeiten im Jahre zugelaſſen, doch dem Menſchen keine vorgeſchrieben, weil dieſer fuͤr die Ehe ge- macht, unter allen Thieren am laͤngſten ein Kind, und fremder Huͤlfe beduͤrftig iſt. Daher findet man, ſo viel man aus allen Reiſebeſchreibungen ſehen kann, keine ein-
zige
(x)[Spaltenumbruch]MULLER Entwurf. &c. T. II. n. 88.
(y)BATTIE on madneſſ. p. 27. [unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]ARTLEY pag. 41. BONNET pag. 409.
(z)[Spaltenumbruch]
Beide unterſcheiden ſich von der Empfindung. Mém. de Berlin T. XIII. p. 389.
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Der Wille. XVII. Buch.
Wir haben geſagt, daß ein gelinder Schmerz beſtaͤn-
dig, und die Wolluſt ſeltener, dennoch aber haͤufiger ſei,
als ein beſchwerlicher Schmerz. Jch kann nicht ſagen,
ob bei der Empfindung unſrer Exſiſtenz (x), einige Wolluſt
ſtatt finde. Doch iſt ſie beim Eſſen, und Trinken; und
ſo oft wir dem Verlangen unſrer Natur ein Genuͤgen lei-
ſten, z. E. wenn wir friſche Luft athmen, oder auf ſchwe-
re Arbeiten ruhen.
Doch finde ich nicht, daß bei allen Empfindungen
(y), entweder Wolluſt, oder Schmerz gegenwaͤrtig iſt.
Ein Dreiekk, welches ich betrachte, erregt keines von bei-
den in mir (z).
Jch finde im Schmerz und dem Vergnuͤgen, deutliche
Spuren von der goͤttlichen Weisheit. Der Schmerz er-
innert uns, Krankheiten zu meiden, und Verwundungen
zu verhuͤten. Das Vergnuͤgen iſt uns von der Liebe des
Schoͤpfers zu ſolchen Geſchaͤften geſchenkt worden, die
uns entweder ſelbſt zutraͤglich ſind, als im Eſſen und
Trinken geſchicht, oder die das menſchliche Geſchlecht er-
halten helfen, als in der Begattung. Der Schoͤpfer hat
es ſtaͤrker, und in den maͤnnlichen Geſchoͤpfen faſt unbe-
zwingbar gemacht, damit ſie die weiblichen Gegenſtaͤnde
uͤberreden, oder zwingen ſollen. Nur mit dem Unter-
ſchiede, da die meiſten Thiere in der Ehe nicht dauren,
und die Erziehung der Jungen in kurzer Zeit geendigt iſt,
ſo hat der Schoͤpfer den unvernuͤnftigen Thieren zu die-
ſer Begierde gewiſſe Zeiten im Jahre zugelaſſen, doch dem
Menſchen keine vorgeſchrieben, weil dieſer fuͤr die Ehe ge-
macht, unter allen Thieren am laͤngſten ein Kind, und
fremder Huͤlfe beduͤrftig iſt. Daher findet man, ſo viel
man aus allen Reiſebeſchreibungen ſehen kann, keine ein-
zige
(x)
MULLER Entwurf. &c. T.
II. n. 88.
(y) BATTIE on madneſſ. p. 27.
_ARTLEY pag. 41. BONNET
pag. 409.
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Beide unterſcheiden ſich von
der Empfindung. Mém. de Berlin
T. XIII. p. 389.
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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1132>, abgerufen am 23.11.2024.
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