Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Wille. XVII. Buch.
diese dehnt er seine Hoffnungen aus, und diese zieht er
dem Gegenwärtigen vor. Wir arbeiten alle, wie Horaz
längst erinnert hat, nicht damit es uns jezzo, sondern
künftig wohlgehe, damit auch unsre Kinder, Nachkom-
men, Nebenbürger, und das Vaterland Nuzzen daraus
ziehen möge, zu welchem der Schöpfer einigen Völkern
eine bewundernswürdige Zuneigung eingeflöst hat. Eben
diese Hoffnung ist der Grund der ganzen Religion, und
Religionen, und sie befiehlt uns die gegenwärtige Lüste zu
bezähmen, damit sie uns nicht in ein künftiges Elend
stürzen mögen. Man siehet aber auch leicht ein, daß man
diese Hoffnung durch Aufmerksamkeit und öftere Betrach-
tungen derjenigen Begriffe unterhalten müsse, worauf sie
sich gründet. Wenn dieses unterlassen wird, so verfallen
wir wieder unter die Herrschaft der gegenwärtigen Wol-
lust, wodurch die Hoffnung des Künftigen träge gemacht
wird. Dies ist das: ich sehe das Bessere vor mir, und
gebe ihm meinen Beifall; und dennoch folge ich dem
Schlechtern.

Der zweete Jnstinkt, wovon wir bei den Thieren we-
nige, im Hunde aber einige Spuren antreffen, ist die
Neugierde, oder die Begierde etwas Neues zu lernen,
und diese sezzt auch den Menschen ausser sich, daß er sein
Vaterland vergiest und auf unwegsamen Meeren und durch
tausend Gefahren seine Neugierde zu stillen sucht. Die-
ses ist ebenfalls ein starker Beweis von der göttlichen Weis-
heit. Da die Thiere auf wenig Pflanzen und etliche an-
dre Thiere, um diese zu zerreissen, eingeschränkt sind, und
da der Schauplazz der Natur nicht ohne Zuschauer sein
sollte, so ist der Mensch allein übrig, die Wunder der
körperlichen Welt zu beschauen. Jhn hat also Gott zu
dieser Verrichtung mit diesem Jnstinkte versehen, den die
Europäer vor andren Völkern in stärkerem Grade besiz-
zen. Man könnte zwar den Ursprung desselben in dem
Verdrusse über den gegenwärtigen Zustand, und in der
Ermüdung der Faser von einerlei fortgesezzten Biegung

suchen

Der Wille. XVII. Buch.
dieſe dehnt er ſeine Hoffnungen aus, und dieſe zieht er
dem Gegenwaͤrtigen vor. Wir arbeiten alle, wie Horaz
laͤngſt erinnert hat, nicht damit es uns jezzo, ſondern
kuͤnftig wohlgehe, damit auch unſre Kinder, Nachkom-
men, Nebenbuͤrger, und das Vaterland Nuzzen daraus
ziehen moͤge, zu welchem der Schoͤpfer einigen Voͤlkern
eine bewundernswuͤrdige Zuneigung eingefloͤſt hat. Eben
dieſe Hoffnung iſt der Grund der ganzen Religion, und
Religionen, und ſie befiehlt uns die gegenwaͤrtige Luͤſte zu
bezaͤhmen, damit ſie uns nicht in ein kuͤnftiges Elend
ſtuͤrzen moͤgen. Man ſiehet aber auch leicht ein, daß man
dieſe Hoffnung durch Aufmerkſamkeit und oͤftere Betrach-
tungen derjenigen Begriffe unterhalten muͤſſe, worauf ſie
ſich gruͤndet. Wenn dieſes unterlaſſen wird, ſo verfallen
wir wieder unter die Herrſchaft der gegenwaͤrtigen Wol-
luſt, wodurch die Hoffnung des Kuͤnftigen traͤge gemacht
wird. Dies iſt das: ich ſehe das Beſſere vor mir, und
gebe ihm meinen Beifall; und dennoch folge ich dem
Schlechtern.

Der zweete Jnſtinkt, wovon wir bei den Thieren we-
nige, im Hunde aber einige Spuren antreffen, iſt die
Neugierde, oder die Begierde etwas Neues zu lernen,
und dieſe ſezzt auch den Menſchen auſſer ſich, daß er ſein
Vaterland vergieſt und auf unwegſamen Meeren und durch
tauſend Gefahren ſeine Neugierde zu ſtillen ſucht. Die-
ſes iſt ebenfalls ein ſtarker Beweis von der goͤttlichen Weis-
heit. Da die Thiere auf wenig Pflanzen und etliche an-
dre Thiere, um dieſe zu zerreiſſen, eingeſchraͤnkt ſind, und
da der Schauplazz der Natur nicht ohne Zuſchauer ſein
ſollte, ſo iſt der Menſch allein uͤbrig, die Wunder der
koͤrperlichen Welt zu beſchauen. Jhn hat alſo Gott zu
dieſer Verrichtung mit dieſem Jnſtinkte verſehen, den die
Europaͤer vor andren Voͤlkern in ſtaͤrkerem Grade beſiz-
zen. Man koͤnnte zwar den Urſprung deſſelben in dem
Verdruſſe uͤber den gegenwaͤrtigen Zuſtand, und in der
Ermuͤdung der Faſer von einerlei fortgeſezzten Biegung

ſuchen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f1134" n="1116"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Der Wille. <hi rendition="#aq">XVII.</hi> Buch.</hi></fw><lb/>
die&#x017F;e dehnt er &#x017F;eine Hoffnungen aus, und die&#x017F;e zieht er<lb/>
dem Gegenwa&#x0364;rtigen vor. Wir arbeiten alle, wie <hi rendition="#fr">Horaz</hi><lb/>
la&#x0364;ng&#x017F;t erinnert hat, nicht damit es uns jezzo, &#x017F;ondern<lb/>
ku&#x0364;nftig wohlgehe, damit auch un&#x017F;re Kinder, Nachkom-<lb/>
men, Nebenbu&#x0364;rger, und das Vaterland Nuzzen daraus<lb/>
ziehen mo&#x0364;ge, zu welchem der Scho&#x0364;pfer einigen Vo&#x0364;lkern<lb/>
eine bewundernswu&#x0364;rdige Zuneigung eingeflo&#x0364;&#x017F;t hat. Eben<lb/>
die&#x017F;e Hoffnung i&#x017F;t der Grund der ganzen Religion, und<lb/>
Religionen, und &#x017F;ie befiehlt uns die gegenwa&#x0364;rtige Lu&#x0364;&#x017F;te zu<lb/>
beza&#x0364;hmen, damit &#x017F;ie uns nicht in ein ku&#x0364;nftiges Elend<lb/>
&#x017F;tu&#x0364;rzen mo&#x0364;gen. Man &#x017F;iehet aber auch leicht ein, daß man<lb/>
die&#x017F;e Hoffnung durch Aufmerk&#x017F;amkeit und o&#x0364;ftere Betrach-<lb/>
tungen derjenigen Begriffe unterhalten mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, worauf &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich gru&#x0364;ndet. Wenn die&#x017F;es unterla&#x017F;&#x017F;en wird, &#x017F;o verfallen<lb/>
wir wieder unter die Herr&#x017F;chaft der gegenwa&#x0364;rtigen Wol-<lb/>
lu&#x017F;t, wodurch die Hoffnung des Ku&#x0364;nftigen tra&#x0364;ge gemacht<lb/>
wird. Dies i&#x017F;t das: ich &#x017F;ehe das Be&#x017F;&#x017F;ere vor mir, und<lb/>
gebe ihm meinen Beifall; und dennoch folge ich dem<lb/>
Schlechtern.</p><lb/>
            <p>Der zweete Jn&#x017F;tinkt, wovon wir bei den Thieren we-<lb/>
nige, im Hunde aber einige Spuren antreffen, i&#x017F;t die<lb/>
Neugierde, oder die Begierde etwas Neues zu lernen,<lb/>
und die&#x017F;e &#x017F;ezzt auch den Men&#x017F;chen au&#x017F;&#x017F;er &#x017F;ich, daß er &#x017F;ein<lb/>
Vaterland vergie&#x017F;t und auf unweg&#x017F;amen Meeren und durch<lb/>
tau&#x017F;end Gefahren &#x017F;eine Neugierde zu &#x017F;tillen &#x017F;ucht. Die-<lb/>
&#x017F;es i&#x017F;t ebenfalls ein &#x017F;tarker Beweis von der go&#x0364;ttlichen Weis-<lb/>
heit. Da die Thiere auf wenig Pflanzen und etliche an-<lb/>
dre Thiere, um die&#x017F;e zu zerrei&#x017F;&#x017F;en, einge&#x017F;chra&#x0364;nkt &#x017F;ind, und<lb/>
da der Schauplazz der Natur nicht ohne Zu&#x017F;chauer &#x017F;ein<lb/>
&#x017F;ollte, &#x017F;o i&#x017F;t der Men&#x017F;ch allein u&#x0364;brig, die Wunder der<lb/>
ko&#x0364;rperlichen Welt zu be&#x017F;chauen. Jhn hat al&#x017F;o Gott zu<lb/>
die&#x017F;er Verrichtung mit die&#x017F;em Jn&#x017F;tinkte ver&#x017F;ehen, den die<lb/>
Europa&#x0364;er vor andren Vo&#x0364;lkern in &#x017F;ta&#x0364;rkerem Grade be&#x017F;iz-<lb/>
zen. Man ko&#x0364;nnte zwar den Ur&#x017F;prung de&#x017F;&#x017F;elben in dem<lb/>
Verdru&#x017F;&#x017F;e u&#x0364;ber den gegenwa&#x0364;rtigen Zu&#x017F;tand, und in der<lb/>
Ermu&#x0364;dung der Fa&#x017F;er von einerlei fortge&#x017F;ezzten Biegung<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;uchen</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1116/1134] Der Wille. XVII. Buch. dieſe dehnt er ſeine Hoffnungen aus, und dieſe zieht er dem Gegenwaͤrtigen vor. Wir arbeiten alle, wie Horaz laͤngſt erinnert hat, nicht damit es uns jezzo, ſondern kuͤnftig wohlgehe, damit auch unſre Kinder, Nachkom- men, Nebenbuͤrger, und das Vaterland Nuzzen daraus ziehen moͤge, zu welchem der Schoͤpfer einigen Voͤlkern eine bewundernswuͤrdige Zuneigung eingefloͤſt hat. Eben dieſe Hoffnung iſt der Grund der ganzen Religion, und Religionen, und ſie befiehlt uns die gegenwaͤrtige Luͤſte zu bezaͤhmen, damit ſie uns nicht in ein kuͤnftiges Elend ſtuͤrzen moͤgen. Man ſiehet aber auch leicht ein, daß man dieſe Hoffnung durch Aufmerkſamkeit und oͤftere Betrach- tungen derjenigen Begriffe unterhalten muͤſſe, worauf ſie ſich gruͤndet. Wenn dieſes unterlaſſen wird, ſo verfallen wir wieder unter die Herrſchaft der gegenwaͤrtigen Wol- luſt, wodurch die Hoffnung des Kuͤnftigen traͤge gemacht wird. Dies iſt das: ich ſehe das Beſſere vor mir, und gebe ihm meinen Beifall; und dennoch folge ich dem Schlechtern. Der zweete Jnſtinkt, wovon wir bei den Thieren we- nige, im Hunde aber einige Spuren antreffen, iſt die Neugierde, oder die Begierde etwas Neues zu lernen, und dieſe ſezzt auch den Menſchen auſſer ſich, daß er ſein Vaterland vergieſt und auf unwegſamen Meeren und durch tauſend Gefahren ſeine Neugierde zu ſtillen ſucht. Die- ſes iſt ebenfalls ein ſtarker Beweis von der goͤttlichen Weis- heit. Da die Thiere auf wenig Pflanzen und etliche an- dre Thiere, um dieſe zu zerreiſſen, eingeſchraͤnkt ſind, und da der Schauplazz der Natur nicht ohne Zuſchauer ſein ſollte, ſo iſt der Menſch allein uͤbrig, die Wunder der koͤrperlichen Welt zu beſchauen. Jhn hat alſo Gott zu dieſer Verrichtung mit dieſem Jnſtinkte verſehen, den die Europaͤer vor andren Voͤlkern in ſtaͤrkerem Grade beſiz- zen. Man koͤnnte zwar den Urſprung deſſelben in dem Verdruſſe uͤber den gegenwaͤrtigen Zuſtand, und in der Ermuͤdung der Faſer von einerlei fortgeſezzten Biegung ſuchen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1134
Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1134>, abgerufen am 16.07.2024.