Doch es hat das Ansehn, daß sich diese Kraft um so viel stärker äussere, je grösser die Gewalt ist, welche eine Faser hervorbringt, so wie eine musikalische Saite an sich härter ist, und sich mit einer grössern Gewalt zusammen- zieht, wenn sie hundert Pfunde trägt, als sie sich sonst zusammenziehen würde, wenn man sie blos mit zehn Pfunden ausspannen wollte. Sie bedarf also, da sie von einem so grossen Gewicht ausgedehnt worden, wenn man sie weiter ausspannen will, einer grössern Kraft, und springt daher, wenn man sie los läst, auch viel stärker und geschwinder wieder zurükke. Es erfordert die Menschen- haut (g), wenn sie noch einmal so lang ausgedehnt wer- den soll, eine zehnmal grössere, und wenn sie sechsmal länger gemacht werden soll, zwanzigmal mehr Kraft (h). Man hat einen Hautriemen durch ein einfaches Gewicht auf vier Linien, durch ein gedoppelt Gewichte bis sieben, durch ein dreifaches Gewicht, bis auf neun Linien ausge- spannt (i). Jndessen hat doch auch diese Gewalt ihr be- stimmtes Maas, und wenn man eine Faser über ihr Ver- mögen verlängert, so zernichtet sich diese Kraft völlig, und leidet von der Zerrung dergestalt, daß sich die Grund- stoffe von einander trennen, und eine Tonsaite zersprin- gen mus.
Eben so scheint auch diese natürliche Verkürzungskraft, gegenseitig in dem Berührungspunkte stille zu stehen, wenn sich nämlich die Grundstoffe einander so nahe bringen lassen, daß man sie nicht näher bringen kann. Sie suchen sich einander selbst so nahe zu kommen, als es ihre Natur und die Freiheit verstattet. Es zerris ein Hautrieme, als man ihn von drei bis sechs Zoll ausspannte, und seine Enden waren wieder, zusammengenommen, drei Zoll lang, und wie Abschnitte einer gezerrten Schlagader anzusehen (k).
Jn-
(g)[Spaltenumbruch]SAUVAGES physiol. p. 16. Theor. tumor. p. 7. VARENNE in thesi: Ergo uieri contractio praecipua partus causa.
(h)[Spaltenumbruch]SAUVAGES theor. tu- mor. p. 7.
(i)Idem ibid.
(k)ibid. p. 8.
A 2
II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
Doch es hat das Anſehn, daß ſich dieſe Kraft um ſo viel ſtaͤrker aͤuſſere, je groͤſſer die Gewalt iſt, welche eine Faſer hervorbringt, ſo wie eine muſikaliſche Saite an ſich haͤrter iſt, und ſich mit einer groͤſſern Gewalt zuſammen- zieht, wenn ſie hundert Pfunde traͤgt, als ſie ſich ſonſt zuſammenziehen wuͤrde, wenn man ſie blos mit zehn Pfunden ausſpannen wollte. Sie bedarf alſo, da ſie von einem ſo groſſen Gewicht ausgedehnt worden, wenn man ſie weiter ausſpannen will, einer groͤſſern Kraft, und ſpringt daher, wenn man ſie los laͤſt, auch viel ſtaͤrker und geſchwinder wieder zuruͤkke. Es erfordert die Menſchen- haut (g), wenn ſie noch einmal ſo lang ausgedehnt wer- den ſoll, eine zehnmal groͤſſere, und wenn ſie ſechsmal laͤnger gemacht werden ſoll, zwanzigmal mehr Kraft (h). Man hat einen Hautriemen durch ein einfaches Gewicht auf vier Linien, durch ein gedoppelt Gewichte bis ſieben, durch ein dreifaches Gewicht, bis auf neun Linien ausge- ſpannt (i). Jndeſſen hat doch auch dieſe Gewalt ihr be- ſtimmtes Maas, und wenn man eine Faſer uͤber ihr Ver- moͤgen verlaͤngert, ſo zernichtet ſich dieſe Kraft voͤllig, und leidet von der Zerrung dergeſtalt, daß ſich die Grund- ſtoffe von einander trennen, und eine Tonſaite zerſprin- gen mus.
Eben ſo ſcheint auch dieſe natuͤrliche Verkuͤrzungskraft, gegenſeitig in dem Beruͤhrungspunkte ſtille zu ſtehen, wenn ſich naͤmlich die Grundſtoffe einander ſo nahe bringen laſſen, daß man ſie nicht naͤher bringen kann. Sie ſuchen ſich einander ſelbſt ſo nahe zu kommen, als es ihre Natur und die Freiheit verſtattet. Es zerris ein Hautrieme, als man ihn von drei bis ſechs Zoll ausſpannte, und ſeine Enden waren wieder, zuſammengenommen, drei Zoll lang, und wie Abſchnitte einer gezerrten Schlagader anzuſehen (k).
Jn-
(g)[Spaltenumbruch]SAUVAGES phyſiol. p. 16. Theor. tumor. p. 7. VARENNE in theſi: Ergo uieri contractio praecipua partus cauſa.
(h)[Spaltenumbruch]SAUVAGES theor. tu- mor. p. 7.
(i)Idem ibid.
(k)ibid. p. 8.
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II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
Doch es hat das Anſehn, daß ſich dieſe Kraft um ſo
viel ſtaͤrker aͤuſſere, je groͤſſer die Gewalt iſt, welche eine
Faſer hervorbringt, ſo wie eine muſikaliſche Saite an ſich
haͤrter iſt, und ſich mit einer groͤſſern Gewalt zuſammen-
zieht, wenn ſie hundert Pfunde traͤgt, als ſie ſich ſonſt
zuſammenziehen wuͤrde, wenn man ſie blos mit zehn
Pfunden ausſpannen wollte. Sie bedarf alſo, da ſie von
einem ſo groſſen Gewicht ausgedehnt worden, wenn man
ſie weiter ausſpannen will, einer groͤſſern Kraft, und
ſpringt daher, wenn man ſie los laͤſt, auch viel ſtaͤrker und
geſchwinder wieder zuruͤkke. Es erfordert die Menſchen-
haut (g), wenn ſie noch einmal ſo lang ausgedehnt wer-
den ſoll, eine zehnmal groͤſſere, und wenn ſie ſechsmal
laͤnger gemacht werden ſoll, zwanzigmal mehr Kraft (h).
Man hat einen Hautriemen durch ein einfaches Gewicht
auf vier Linien, durch ein gedoppelt Gewichte bis ſieben,
durch ein dreifaches Gewicht, bis auf neun Linien ausge-
ſpannt (i). Jndeſſen hat doch auch dieſe Gewalt ihr be-
ſtimmtes Maas, und wenn man eine Faſer uͤber ihr Ver-
moͤgen verlaͤngert, ſo zernichtet ſich dieſe Kraft voͤllig,
und leidet von der Zerrung dergeſtalt, daß ſich die Grund-
ſtoffe von einander trennen, und eine Tonſaite zerſprin-
gen mus.
Eben ſo ſcheint auch dieſe natuͤrliche Verkuͤrzungskraft,
gegenſeitig in dem Beruͤhrungspunkte ſtille zu ſtehen, wenn
ſich naͤmlich die Grundſtoffe einander ſo nahe bringen
laſſen, daß man ſie nicht naͤher bringen kann. Sie ſuchen
ſich einander ſelbſt ſo nahe zu kommen, als es ihre Natur
und die Freiheit verſtattet. Es zerris ein Hautrieme,
als man ihn von drei bis ſechs Zoll ausſpannte, und ſeine
Enden waren wieder, zuſammengenommen, drei Zoll lang,
und wie Abſchnitte einer gezerrten Schlagader anzuſehen (k).
Jn-
(g)
SAUVAGES phyſiol. p. 16.
Theor. tumor. p. 7. VARENNE
in theſi: Ergo uieri contractio
praecipua partus cauſa.
(h)
SAUVAGES theor. tu-
mor. p. 7.
(i) Idem ibid.
(k) ibid. p. 8.
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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/21>, abgerufen am 21.11.2024.
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