Viele berümte Männer haben sich zu unsern Zeiten zu zeigen bemüht, daß die Jrrtümer der übrigen Sinne, und besonders des Gesichtes, durch das Fühlen sich ver- bessern lassen (o), und daß dieses Fühlen lebhafte Ein- drükke von Jdeen verursache, welche dauerhaft sind: so wie ein blinder Bildhauer vom blossen Fühlen lerne, ganz änliche Bildsäulen Personen änlich nachzuschnizzen (p).
Dieses ist zum Theil wahr, zum Theil falsch. Jn der That hat das Fühlen das Vorrecht, daß wir von dem Körper selbst unmittelbar gerühret werden, von dessen Beschaffenheiten wir unser Urtheil sagen, da z. E. beim Sehen, das Auge nicht von dem gesehenen Körper, son- dern von einem andern, nämlich dem gefärbten Lichtstrale getroffen wird.
Allein, darum trügen die übrigen Sinne, und selbst das Gesicht viel weniger, als man gemeiniglich zu schrei- ben pflegt.
Ein Pferd misset, ohne alle Gefühlhülfsmittel, wozu ohnedem ein vierfüßiges Thier ganz und gar ungeschikkt ist, die Weite mit seinem Auge auf das beste, und springet genau über den anbefolenen Graben. Neugeborne Thiere, z. E. Lämmer, suchen sogleich ihre Mütter, und finden sie: die eben aus dem Ei kriechende Fliege, die vor kur- zem erst Augen bekam, fliegt, ohne alle erlernte Erfarung, gerades Weges, vom Geruche geleitet, zu dem stinkenden Körper hin. Doch hiervon soll anderswo geredet werden.
Ferner so trügt das Fühlen eben so wohl. Jch will nicht den Versuch des Sturms anführen (q), da die
übers
(o)[Spaltenumbruch]BUFFON hist. natur. T. III. pag. 363.
(p)le CAT loc. cit.
(q)[Spaltenumbruch]STURM sensus unius ge- minus p. 8.
Das Fuͤhlen XII. Buch.
§. 3. Ob uns das Fuͤhlen betruͤge.
Viele beruͤmte Maͤnner haben ſich zu unſern Zeiten zu zeigen bemuͤht, daß die Jrrtuͤmer der uͤbrigen Sinne, und beſonders des Geſichtes, durch das Fuͤhlen ſich ver- beſſern laſſen (o), und daß dieſes Fuͤhlen lebhafte Ein- druͤkke von Jdeen verurſache, welche dauerhaft ſind: ſo wie ein blinder Bildhauer vom bloſſen Fuͤhlen lerne, ganz aͤnliche Bildſaͤulen Perſonen aͤnlich nachzuſchnizzen (p).
Dieſes iſt zum Theil wahr, zum Theil falſch. Jn der That hat das Fuͤhlen das Vorrecht, daß wir von dem Koͤrper ſelbſt unmittelbar geruͤhret werden, von deſſen Beſchaffenheiten wir unſer Urtheil ſagen, da z. E. beim Sehen, das Auge nicht von dem geſehenen Koͤrper, ſon- dern von einem andern, naͤmlich dem gefaͤrbten Lichtſtrale getroffen wird.
Allein, darum truͤgen die uͤbrigen Sinne, und ſelbſt das Geſicht viel weniger, als man gemeiniglich zu ſchrei- ben pflegt.
Ein Pferd miſſet, ohne alle Gefuͤhlhuͤlfsmittel, wozu ohnedem ein vierfuͤßiges Thier ganz und gar ungeſchikkt iſt, die Weite mit ſeinem Auge auf das beſte, und ſpringet genau uͤber den anbefolenen Graben. Neugeborne Thiere, z. E. Laͤmmer, ſuchen ſogleich ihre Muͤtter, und finden ſie: die eben aus dem Ei kriechende Fliege, die vor kur- zem erſt Augen bekam, fliegt, ohne alle erlernte Erfarung, gerades Weges, vom Geruche geleitet, zu dem ſtinkenden Koͤrper hin. Doch hiervon ſoll anderswo geredet werden.
Ferner ſo truͤgt das Fuͤhlen eben ſo wohl. Jch will nicht den Verſuch des Sturms anfuͤhren (q), da die
uͤbers
(o)[Spaltenumbruch]BUFFON hiſt. natur. T. III. pag. 363.
(p)le CAT loc. cit.
(q)[Spaltenumbruch]STURM ſenſus unius ge- minus p. 8.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0396"n="378"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Das Fuͤhlen <hirendition="#aq">XII.</hi> Buch.</hi></fw><lb/><divn="3"><head>§. 3.<lb/><hirendition="#b">Ob uns das Fuͤhlen betruͤge.</hi></head><lb/><p>Viele beruͤmte Maͤnner haben ſich zu unſern Zeiten<lb/>
zu zeigen bemuͤht, daß die Jrrtuͤmer der uͤbrigen Sinne,<lb/>
und beſonders des Geſichtes, durch das Fuͤhlen ſich ver-<lb/>
beſſern laſſen <noteplace="foot"n="(o)"><cb/><hirendition="#aq"><hirendition="#g">BUFFON</hi> hiſt. natur. T.<lb/>
III. pag.</hi> 363.</note>, und daß dieſes Fuͤhlen lebhafte Ein-<lb/>
druͤkke von Jdeen verurſache, welche dauerhaft ſind: ſo<lb/>
wie ein blinder Bildhauer vom bloſſen Fuͤhlen lerne, ganz<lb/>
aͤnliche Bildſaͤulen Perſonen aͤnlich nachzuſchnizzen <noteplace="foot"n="(p)"><hirendition="#aq">le <hirendition="#g">CAT</hi> loc. cit.</hi></note>.</p><lb/><p>Dieſes iſt zum Theil wahr, zum Theil falſch. Jn<lb/>
der That hat das Fuͤhlen das Vorrecht, daß wir von dem<lb/>
Koͤrper ſelbſt unmittelbar geruͤhret werden, von deſſen<lb/>
Beſchaffenheiten wir unſer Urtheil ſagen, da z. E. beim<lb/>
Sehen, das Auge nicht von dem geſehenen Koͤrper, ſon-<lb/>
dern von einem andern, naͤmlich dem gefaͤrbten Lichtſtrale<lb/>
getroffen wird.</p><lb/><p>Allein, darum truͤgen die uͤbrigen Sinne, und ſelbſt<lb/>
das Geſicht viel weniger, als man gemeiniglich zu ſchrei-<lb/>
ben pflegt.</p><lb/><p>Ein Pferd miſſet, ohne alle Gefuͤhlhuͤlfsmittel, wozu<lb/>
ohnedem ein vierfuͤßiges Thier ganz und gar ungeſchikkt<lb/>
iſt, die Weite mit ſeinem Auge auf das beſte, und ſpringet<lb/>
genau uͤber den anbefolenen Graben. Neugeborne Thiere,<lb/>
z. E. Laͤmmer, ſuchen ſogleich ihre Muͤtter, und finden<lb/>ſie: die eben aus dem Ei kriechende Fliege, die vor kur-<lb/>
zem erſt Augen bekam, fliegt, ohne alle erlernte Erfarung,<lb/>
gerades Weges, vom Geruche geleitet, zu dem ſtinkenden<lb/>
Koͤrper hin. Doch hiervon ſoll anderswo geredet werden.</p><lb/><p>Ferner ſo truͤgt das Fuͤhlen eben ſo wohl. Jch will<lb/>
nicht den Verſuch des <hirendition="#fr">Sturms</hi> anfuͤhren <noteplace="foot"n="(q)"><cb/><hirendition="#aq"><hirendition="#g">STURM</hi>ſenſus unius ge-<lb/>
minus p.</hi> 8.</note>, da die<lb/><fwplace="bottom"type="catch">uͤbers</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[378/0396]
Das Fuͤhlen XII. Buch.
§. 3.
Ob uns das Fuͤhlen betruͤge.
Viele beruͤmte Maͤnner haben ſich zu unſern Zeiten
zu zeigen bemuͤht, daß die Jrrtuͤmer der uͤbrigen Sinne,
und beſonders des Geſichtes, durch das Fuͤhlen ſich ver-
beſſern laſſen (o), und daß dieſes Fuͤhlen lebhafte Ein-
druͤkke von Jdeen verurſache, welche dauerhaft ſind: ſo
wie ein blinder Bildhauer vom bloſſen Fuͤhlen lerne, ganz
aͤnliche Bildſaͤulen Perſonen aͤnlich nachzuſchnizzen (p).
Dieſes iſt zum Theil wahr, zum Theil falſch. Jn
der That hat das Fuͤhlen das Vorrecht, daß wir von dem
Koͤrper ſelbſt unmittelbar geruͤhret werden, von deſſen
Beſchaffenheiten wir unſer Urtheil ſagen, da z. E. beim
Sehen, das Auge nicht von dem geſehenen Koͤrper, ſon-
dern von einem andern, naͤmlich dem gefaͤrbten Lichtſtrale
getroffen wird.
Allein, darum truͤgen die uͤbrigen Sinne, und ſelbſt
das Geſicht viel weniger, als man gemeiniglich zu ſchrei-
ben pflegt.
Ein Pferd miſſet, ohne alle Gefuͤhlhuͤlfsmittel, wozu
ohnedem ein vierfuͤßiges Thier ganz und gar ungeſchikkt
iſt, die Weite mit ſeinem Auge auf das beſte, und ſpringet
genau uͤber den anbefolenen Graben. Neugeborne Thiere,
z. E. Laͤmmer, ſuchen ſogleich ihre Muͤtter, und finden
ſie: die eben aus dem Ei kriechende Fliege, die vor kur-
zem erſt Augen bekam, fliegt, ohne alle erlernte Erfarung,
gerades Weges, vom Geruche geleitet, zu dem ſtinkenden
Koͤrper hin. Doch hiervon ſoll anderswo geredet werden.
Ferner ſo truͤgt das Fuͤhlen eben ſo wohl. Jch will
nicht den Verſuch des Sturms anfuͤhren (q), da die
uͤbers
(o)
BUFFON hiſt. natur. T.
III. pag. 363.
(p) le CAT loc. cit.
(q)
STURM ſenſus unius ge-
minus p. 8.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/396>, abgerufen am 31.10.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.