§. 2. Die Unentbehrlichkeit der Speise und des Getränkes.
Die göttliche Weisheit, diese Pflegemutter der Thiere, leuchtet darinnen hervor, daß sie selbige zu Dingen, die ihnen nüzzlich sind, durch Belonungen lokkt, und durch Strafen zwingt. Gott hat es für gut befunden, das Leben eines Thieres bis zu einer bestimmten Frist zu ver- längern: Diese Frist kann ohne Speise und Trank nicht erreicht werden. Folglich ladet er uns zur Erfüllung sei- ner Absicht durch den annemlichen Geschmakk, der sich beim Genusse von Speise und Trank befindet, ein; und er vermert diese Wollust nach dem Verhältnisse, als uns Speise und Trank notwendiger wird. Wie schlecht ist der Appetit des reichen Müßiggängers; kaum können alle Gewürze des tiefsten Jndiens denselben rege machen. Hingegen findet der vom Pfluge nach Hause kommende Landmann, der Jäger, dessen Unverdrossenheit schnelle Thiere eingeholt hat, im schwarzen und alten Brodte, oder in einem Trunke frischen Wassers, so viel Wollust, daß er keine Lekkerbissen der Petronier achtet, wenn er der Natur ein Genüge leistet.
Und dennoch wollte der Schöpfer den Menschen und das Thier, die zur Ruhe und Trägheit geneigt sind, und denen die Arbeit zur Last wird, nicht blos der Herrschaft der Wollust allein überlassen. Er gesellte ihr den uner- bittlichen Gehülfen der Sinne, den heftigen, grausamen, und unerträglichen Schmerz bei, und, um diesen strengen Feinde nicht in die Hände zu fallen, muß auch ein faules Thier auf ein Getränke bedacht sein, und für die Speise arbeiten. Jch muß aber den Anfang zu meinem Vor- trage von dieser Notwendigkeit machen, um derentwillen uns, diese von Gott festgestellte gute Natur, so grausamen Martern unterwirft.
§. 3.
Der Magen. XIX. Buch.
§. 2. Die Unentbehrlichkeit der Speiſe und des Getraͤnkes.
Die goͤttliche Weisheit, dieſe Pflegemutter der Thiere, leuchtet darinnen hervor, daß ſie ſelbige zu Dingen, die ihnen nuͤzzlich ſind, durch Belonungen lokkt, und durch Strafen zwingt. Gott hat es fuͤr gut befunden, das Leben eines Thieres bis zu einer beſtimmten Friſt zu ver- laͤngern: Dieſe Friſt kann ohne Speiſe und Trank nicht erreicht werden. Folglich ladet er uns zur Erfuͤllung ſei- ner Abſicht durch den annemlichen Geſchmakk, der ſich beim Genuſſe von Speiſe und Trank befindet, ein; und er vermert dieſe Wolluſt nach dem Verhaͤltniſſe, als uns Speiſe und Trank notwendiger wird. Wie ſchlecht iſt der Appetit des reichen Muͤßiggaͤngers; kaum koͤnnen alle Gewuͤrze des tiefſten Jndiens denſelben rege machen. Hingegen findet der vom Pfluge nach Hauſe kommende Landmann, der Jaͤger, deſſen Unverdroſſenheit ſchnelle Thiere eingeholt hat, im ſchwarzen und alten Brodte, oder in einem Trunke friſchen Waſſers, ſo viel Wolluſt, daß er keine Lekkerbiſſen der Petronier achtet, wenn er der Natur ein Genuͤge leiſtet.
Und dennoch wollte der Schoͤpfer den Menſchen und das Thier, die zur Ruhe und Traͤgheit geneigt ſind, und denen die Arbeit zur Laſt wird, nicht blos der Herrſchaft der Wolluſt allein uͤberlaſſen. Er geſellte ihr den uner- bittlichen Gehuͤlfen der Sinne, den heftigen, grauſamen, und unertraͤglichen Schmerz bei, und, um dieſen ſtrengen Feinde nicht in die Haͤnde zu fallen, muß auch ein faules Thier auf ein Getraͤnke bedacht ſein, und fuͤr die Speiſe arbeiten. Jch muß aber den Anfang zu meinem Vor- trage von dieſer Notwendigkeit machen, um derentwillen uns, dieſe von Gott feſtgeſtellte gute Natur, ſo grauſamen Martern unterwirft.
§. 3.
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[234[250]/0270]
Der Magen. XIX. Buch.
§. 2.
Die Unentbehrlichkeit der Speiſe und des
Getraͤnkes.
Die goͤttliche Weisheit, dieſe Pflegemutter der Thiere,
leuchtet darinnen hervor, daß ſie ſelbige zu Dingen, die
ihnen nuͤzzlich ſind, durch Belonungen lokkt, und durch
Strafen zwingt. Gott hat es fuͤr gut befunden, das
Leben eines Thieres bis zu einer beſtimmten Friſt zu ver-
laͤngern: Dieſe Friſt kann ohne Speiſe und Trank nicht
erreicht werden. Folglich ladet er uns zur Erfuͤllung ſei-
ner Abſicht durch den annemlichen Geſchmakk, der ſich
beim Genuſſe von Speiſe und Trank befindet, ein; und
er vermert dieſe Wolluſt nach dem Verhaͤltniſſe, als uns
Speiſe und Trank notwendiger wird. Wie ſchlecht iſt
der Appetit des reichen Muͤßiggaͤngers; kaum koͤnnen alle
Gewuͤrze des tiefſten Jndiens denſelben rege machen.
Hingegen findet der vom Pfluge nach Hauſe kommende
Landmann, der Jaͤger, deſſen Unverdroſſenheit ſchnelle
Thiere eingeholt hat, im ſchwarzen und alten Brodte,
oder in einem Trunke friſchen Waſſers, ſo viel Wolluſt,
daß er keine Lekkerbiſſen der Petronier achtet, wenn er
der Natur ein Genuͤge leiſtet.
Und dennoch wollte der Schoͤpfer den Menſchen und
das Thier, die zur Ruhe und Traͤgheit geneigt ſind, und
denen die Arbeit zur Laſt wird, nicht blos der Herrſchaft
der Wolluſt allein uͤberlaſſen. Er geſellte ihr den uner-
bittlichen Gehuͤlfen der Sinne, den heftigen, grauſamen,
und unertraͤglichen Schmerz bei, und, um dieſen ſtrengen
Feinde nicht in die Haͤnde zu fallen, muß auch ein faules
Thier auf ein Getraͤnke bedacht ſein, und fuͤr die Speiſe
arbeiten. Jch muß aber den Anfang zu meinem Vor-
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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 6. Berlin, 1774, S. 234[250]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende06_1774/270>, abgerufen am 24.11.2024.
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