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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 8. Berlin, 1776.

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Die Frucht. XXIX. B.
§. 32.
Die Entwikkelung ohne ein Männchen.

Die Pflanzen entwikkeln sich so wie die Thiere auf
eine zweifache Art. Auch in den Pflanzen liegen Keime
durch alle ihre Theile zerstreut, welche ohne allen Ver-
dacht eines männlichen Saamens zu neuen, vollständi-
gen, eyerlegenden Pflanzen aufwachsen. So lebt das
Weibchen der Weidenbäume für sich allein, ohne eine
männliche Weide in ihrer Nachbarschaft zu haben. Und
dennoch träget sie in allen ihren Knospen, und diese
Knospen sind unzählbar, eine neue Pflanze, welche in
einem für sie schikklichen Erdboden, millionen Weiden-
keime, millionen weibliche Blüthen tragen wird. Eine
jede Knospe dieser schwangern Weidentochter, bringet
ebenfalls durch ihre Knospen Millionen neue Weiden-
bäume hervor. Nimmt man aus einer Pflanze, wo
das männliche und weibliche Geschlecht beisammen ste-
hen, eine Knospe, so bekommen auch alle Pflanzen der-
selben beiderlei Geschlechter.

Wir sind dieses von den Pflanzenknospen schon zu
sehen gewohnt, und es scheint uns nicht mehr zu be-
fremden, wenn das in Blättern eingehüllte Pakk zu
einer neuen Pflanze wird.

Wenn man uns aber belehret, daß eben dieses an
den Polipen, und Korallgewächsen geschicht, so kömmt
uns dieses sehr ungewöhnlich, neue und unerklärbar
vor. Und dennoch war, wie wir tausendmal gesehen
hatten, ein Sistem von Knospen in dem gemeinschaftli-
chen Stamme vorhanden, welche sich ohne männliche
Beihülfe zu was Neues (hier zu einem Thiere) verwan-
delten.

Und dennoch hat sowol die Pflanze als der Polipe
dieses Vorrecht: denn wenn man von der Weide einen
Ast, und vom Polipen ein Stükk abschneidet, so wird

der
Die Frucht. XXIX. B.
§. 32.
Die Entwikkelung ohne ein Maͤnnchen.

Die Pflanzen entwikkeln ſich ſo wie die Thiere auf
eine zweifache Art. Auch in den Pflanzen liegen Keime
durch alle ihre Theile zerſtreut, welche ohne allen Ver-
dacht eines maͤnnlichen Saamens zu neuen, vollſtaͤndi-
gen, eyerlegenden Pflanzen aufwachſen. So lebt das
Weibchen der Weidenbaͤume fuͤr ſich allein, ohne eine
maͤnnliche Weide in ihrer Nachbarſchaft zu haben. Und
dennoch traͤget ſie in allen ihren Knoſpen, und dieſe
Knoſpen ſind unzaͤhlbar, eine neue Pflanze, welche in
einem fuͤr ſie ſchikklichen Erdboden, millionen Weiden-
keime, millionen weibliche Bluͤthen tragen wird. Eine
jede Knoſpe dieſer ſchwangern Weidentochter, bringet
ebenfalls durch ihre Knoſpen Millionen neue Weiden-
baͤume hervor. Nimmt man aus einer Pflanze, wo
das maͤnnliche und weibliche Geſchlecht beiſammen ſte-
hen, eine Knoſpe, ſo bekommen auch alle Pflanzen der-
ſelben beiderlei Geſchlechter.

Wir ſind dieſes von den Pflanzenknoſpen ſchon zu
ſehen gewohnt, und es ſcheint uns nicht mehr zu be-
fremden, wenn das in Blaͤttern eingehuͤllte Pakk zu
einer neuen Pflanze wird.

Wenn man uns aber belehret, daß eben dieſes an
den Polipen, und Korallgewaͤchſen geſchicht, ſo koͤmmt
uns dieſes ſehr ungewoͤhnlich, neue und unerklaͤrbar
vor. Und dennoch war, wie wir tauſendmal geſehen
hatten, ein Siſtem von Knoſpen in dem gemeinſchaftli-
chen Stamme vorhanden, welche ſich ohne maͤnnliche
Beihuͤlfe zu was Neues (hier zu einem Thiere) verwan-
delten.

Und dennoch hat ſowol die Pflanze als der Polipe
dieſes Vorrecht: denn wenn man von der Weide einen
Aſt, und vom Polipen ein Stuͤkk abſchneidet, ſo wird

der
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[266/0318] Die Frucht. XXIX. B. §. 32. Die Entwikkelung ohne ein Maͤnnchen. Die Pflanzen entwikkeln ſich ſo wie die Thiere auf eine zweifache Art. Auch in den Pflanzen liegen Keime durch alle ihre Theile zerſtreut, welche ohne allen Ver- dacht eines maͤnnlichen Saamens zu neuen, vollſtaͤndi- gen, eyerlegenden Pflanzen aufwachſen. So lebt das Weibchen der Weidenbaͤume fuͤr ſich allein, ohne eine maͤnnliche Weide in ihrer Nachbarſchaft zu haben. Und dennoch traͤget ſie in allen ihren Knoſpen, und dieſe Knoſpen ſind unzaͤhlbar, eine neue Pflanze, welche in einem fuͤr ſie ſchikklichen Erdboden, millionen Weiden- keime, millionen weibliche Bluͤthen tragen wird. Eine jede Knoſpe dieſer ſchwangern Weidentochter, bringet ebenfalls durch ihre Knoſpen Millionen neue Weiden- baͤume hervor. Nimmt man aus einer Pflanze, wo das maͤnnliche und weibliche Geſchlecht beiſammen ſte- hen, eine Knoſpe, ſo bekommen auch alle Pflanzen der- ſelben beiderlei Geſchlechter. Wir ſind dieſes von den Pflanzenknoſpen ſchon zu ſehen gewohnt, und es ſcheint uns nicht mehr zu be- fremden, wenn das in Blaͤttern eingehuͤllte Pakk zu einer neuen Pflanze wird. Wenn man uns aber belehret, daß eben dieſes an den Polipen, und Korallgewaͤchſen geſchicht, ſo koͤmmt uns dieſes ſehr ungewoͤhnlich, neue und unerklaͤrbar vor. Und dennoch war, wie wir tauſendmal geſehen hatten, ein Siſtem von Knoſpen in dem gemeinſchaftli- chen Stamme vorhanden, welche ſich ohne maͤnnliche Beihuͤlfe zu was Neues (hier zu einem Thiere) verwan- delten. Und dennoch hat ſowol die Pflanze als der Polipe dieſes Vorrecht: denn wenn man von der Weide einen Aſt, und vom Polipen ein Stuͤkk abſchneidet, ſo wird der

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Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 8. Berlin, 1776, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende08_1776/318>, abgerufen am 22.11.2024.