Es drükken sich nämlich die Bilder der Dinge in den empfindlichen Nervenbrey tief genug ab, es gehet dieses mit einer grossen Geschwindigkeit vor sich, indem sich die verschiedenen Theile der Begriffe einander, wie die Wel- len des Meeres, schnell fortjagen, und wir sehen uns ge- zwungen, Bilder ohne Verzug auf einander solgen zu lassen, welche sich einander ähnlich sind. Selbst die Freudigkeit der Seele gefällt sich bei denen Zierrathen der Dinge, bei der Schönheit, und bei den lebhaften Bil- dern wohl; endlich vergnügt sich die Seele daran, daß sie die Unähnlichkeiten derselben zusammen sezzen kann, so wie ein ernsthaftes Alter Dinge von einander zu un- terscheiden, geschikkt ist, welche unter einander unähnlich sind. Es haben daher die meisten Poeten von den er- sten Jahren ihrer Jugend an, bis ins erste männliche Al- ter, ihre schönste Werke geschrieben, und es erreicht die Aeneide des Virgils bey weiten nicht die Vollkommen- heit von dessen Feldgedichten, so wie keine Satyre des Popen, die er in seinem hohen Alter gemacht, die Be- zauberungen des Lokkenraubes zu erreichen vermochte.
Und dennoch stekkte es schon damals mitten in diesem blühenden Alter der Saame der Verälterung, und so gar des Todes selbst, allmählig entwikkelt sich dieser trau- rige Saame, und er bringt mit denen Jahren diese un- sichtbaren Früchte zur Reife. Es gehen nämlich selbst bei Jünglingen viele Grundsroffe des ersten Körpers ver- lohren, welche sich nothwendiger weise durch neue Grund- stoffe wieder ergänzen müssen: und es äussert beständig und insgeheim die Verhärtung des gesammten Körpers, welche sogar bei der Kindheit Statt gefunden, den Trieb den Menschen wieder zu Erde zu machen, wie er vorher gewesen. Mit dieser gedoppelten Betrachtung wollen wir uns vor jezt beschäftigen, ich werde die erste darunter Ernährung nennen, indessen daß die andere noch kei- nen Namen bekommen hat.
Jch
II. Abſ. Der Zuſtand des Menſchen.
Es druͤkken ſich naͤmlich die Bilder der Dinge in den empfindlichen Nervenbrey tief genug ab, es gehet dieſes mit einer groſſen Geſchwindigkeit vor ſich, indem ſich die verſchiedenen Theile der Begriffe einander, wie die Wel- len des Meeres, ſchnell fortjagen, und wir ſehen uns ge- zwungen, Bilder ohne Verzug auf einander ſolgen zu laſſen, welche ſich einander aͤhnlich ſind. Selbſt die Freudigkeit der Seele gefaͤllt ſich bei denen Zierrathen der Dinge, bei der Schoͤnheit, und bei den lebhaften Bil- dern wohl; endlich vergnuͤgt ſich die Seele daran, daß ſie die Unaͤhnlichkeiten derſelben zuſammen ſezzen kann, ſo wie ein ernſthaftes Alter Dinge von einander zu un- terſcheiden, geſchikkt iſt, welche unter einander unaͤhnlich ſind. Es haben daher die meiſten Poeten von den er- ſten Jahren ihrer Jugend an, bis ins erſte maͤnnliche Al- ter, ihre ſchoͤnſte Werke geſchrieben, und es erreicht die Aeneide des Virgils bey weiten nicht die Vollkommen- heit von deſſen Feldgedichten, ſo wie keine Satyre des Popen, die er in ſeinem hohen Alter gemacht, die Be- zauberungen des Lokkenraubes zu erreichen vermochte.
Und dennoch ſtekkte es ſchon damals mitten in dieſem bluͤhenden Alter der Saame der Veraͤlterung, und ſo gar des Todes ſelbſt, allmaͤhlig entwikkelt ſich dieſer trau- rige Saame, und er bringt mit denen Jahren dieſe un- ſichtbaren Fruͤchte zur Reife. Es gehen naͤmlich ſelbſt bei Juͤnglingen viele Grundſroffe des erſten Koͤrpers ver- lohren, welche ſich nothwendiger weiſe durch neue Grund- ſtoffe wieder ergaͤnzen muͤſſen: und es aͤuſſert beſtaͤndig und insgeheim die Verhaͤrtung des geſammten Koͤrpers, welche ſogar bei der Kindheit Statt gefunden, den Trieb den Menſchen wieder zu Erde zu machen, wie er vorher geweſen. Mit dieſer gedoppelten Betrachtung wollen wir uns vor jezt beſchaͤftigen, ich werde die erſte darunter Ernaͤhrung nennen, indeſſen daß die andere noch kei- nen Namen bekommen hat.
Jch
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[857[859]/0911]
II. Abſ. Der Zuſtand des Menſchen.
Es druͤkken ſich naͤmlich die Bilder der Dinge in den
empfindlichen Nervenbrey tief genug ab, es gehet dieſes
mit einer groſſen Geſchwindigkeit vor ſich, indem ſich die
verſchiedenen Theile der Begriffe einander, wie die Wel-
len des Meeres, ſchnell fortjagen, und wir ſehen uns ge-
zwungen, Bilder ohne Verzug auf einander ſolgen zu
laſſen, welche ſich einander aͤhnlich ſind. Selbſt die
Freudigkeit der Seele gefaͤllt ſich bei denen Zierrathen der
Dinge, bei der Schoͤnheit, und bei den lebhaften Bil-
dern wohl; endlich vergnuͤgt ſich die Seele daran, daß
ſie die Unaͤhnlichkeiten derſelben zuſammen ſezzen kann,
ſo wie ein ernſthaftes Alter Dinge von einander zu un-
terſcheiden, geſchikkt iſt, welche unter einander unaͤhnlich
ſind. Es haben daher die meiſten Poeten von den er-
ſten Jahren ihrer Jugend an, bis ins erſte maͤnnliche Al-
ter, ihre ſchoͤnſte Werke geſchrieben, und es erreicht die
Aeneide des Virgils bey weiten nicht die Vollkommen-
heit von deſſen Feldgedichten, ſo wie keine Satyre des
Popen, die er in ſeinem hohen Alter gemacht, die Be-
zauberungen des Lokkenraubes zu erreichen vermochte.
Und dennoch ſtekkte es ſchon damals mitten in dieſem
bluͤhenden Alter der Saame der Veraͤlterung, und ſo
gar des Todes ſelbſt, allmaͤhlig entwikkelt ſich dieſer trau-
rige Saame, und er bringt mit denen Jahren dieſe un-
ſichtbaren Fruͤchte zur Reife. Es gehen naͤmlich ſelbſt
bei Juͤnglingen viele Grundſroffe des erſten Koͤrpers ver-
lohren, welche ſich nothwendiger weiſe durch neue Grund-
ſtoffe wieder ergaͤnzen muͤſſen: und es aͤuſſert beſtaͤndig
und insgeheim die Verhaͤrtung des geſammten Koͤrpers,
welche ſogar bei der Kindheit Statt gefunden, den Trieb
den Menſchen wieder zu Erde zu machen, wie er vorher
geweſen. Mit dieſer gedoppelten Betrachtung wollen
wir uns vor jezt beſchaͤftigen, ich werde die erſte darunter
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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 8. Berlin, 1776, S. 857[859]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende08_1776/911>, abgerufen am 22.11.2024.
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