Halm, Friedrich [d. i. Eligius Franz Joseph von Münch Bellinghausen]: Die Marzipan-Lise. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 21. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–70. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.ist. Wem die italienischen Fabulisten geläufig sind, der wird den Zögling derselben in Halm sofort erkennen: in dem Eigensinn, womit er einsetzt, der pastösen Farbe, sowie in der Wahl verfänglicher Themen. Wo jedoch der Italiener, so ernst sein Blick auch ist, nur spielt und mit einer graziösen Leichtfertigkeit die Entwicklung locker hält, dort zeigt sich unser deutscher Erzähler gründlich, dort spinnt er lange psychologische Fäden, welche nicht selten das Bündniß der schaulustigen Phantasie mit grübelnder Verstandesarbeit verrathen. Seine Neigung: die Wirkungen des merkwürdigen Vorfalls, auf den er den Ton legt, dialektisch in die Seelen seiner Helden zu verpflanzen, ferner die Art seiner Darstellung erinnern an Heinrich von Kleist. Der Dichter des "Kohlhaas" und der "Marquise von O." hat ihm eingestandenermaßen als Muster vorgeschwebt. Wie Kleist bringt er die heftigen und detaillirten Gemüthsbewegungen seiner Personen in einen auffallenden Contrast zu dem antheillosen, der Relation verwandten Vortrage, setzt er das Unaufhaltsame des Schicksalsganges in ein unheimliches Gleichgewicht mit der Gelassenheit des epischen Berichts. Nicht weniger deutlich machen sich die Unterschiede Beider bemerkbar. Wenn Kleist uns durch die Naturgewalt der Leidenschaften erschüttert, so reizt Halm unsere Einbildungskraft, indem er seltsame Charakterräthsel aufgiebt; wenn Kleist eine reine und unschuldige Menschheit malt, welche nach Tieck's schönem Worte durch die Finsternisse uns anblickt, so stellt Halm in das Zwielicht von Unglück und Schuld entschlossene oder verstockte Menschen, welche unsere Reflexion lebhafter in Anspruch nehmen, als unsere Empfindung; wenn endlich Kleist durch die Trauer über die Gebrechlichkeit der Welt, die von seinen Bildern auf uns übergeht, in uns jene Wehmuth erzeugt, die unsere Spannung gelinde lös't, so starrt uns in Halm's Erzählungen ein tückisches, schadenfrohes Schicksal an, das den Dichter selbst ist. Wem die italienischen Fabulisten geläufig sind, der wird den Zögling derselben in Halm sofort erkennen: in dem Eigensinn, womit er einsetzt, der pastösen Farbe, sowie in der Wahl verfänglicher Themen. Wo jedoch der Italiener, so ernst sein Blick auch ist, nur spielt und mit einer graziösen Leichtfertigkeit die Entwicklung locker hält, dort zeigt sich unser deutscher Erzähler gründlich, dort spinnt er lange psychologische Fäden, welche nicht selten das Bündniß der schaulustigen Phantasie mit grübelnder Verstandesarbeit verrathen. Seine Neigung: die Wirkungen des merkwürdigen Vorfalls, auf den er den Ton legt, dialektisch in die Seelen seiner Helden zu verpflanzen, ferner die Art seiner Darstellung erinnern an Heinrich von Kleist. Der Dichter des „Kohlhaas“ und der „Marquise von O.“ hat ihm eingestandenermaßen als Muster vorgeschwebt. Wie Kleist bringt er die heftigen und detaillirten Gemüthsbewegungen seiner Personen in einen auffallenden Contrast zu dem antheillosen, der Relation verwandten Vortrage, setzt er das Unaufhaltsame des Schicksalsganges in ein unheimliches Gleichgewicht mit der Gelassenheit des epischen Berichts. Nicht weniger deutlich machen sich die Unterschiede Beider bemerkbar. Wenn Kleist uns durch die Naturgewalt der Leidenschaften erschüttert, so reizt Halm unsere Einbildungskraft, indem er seltsame Charakterräthsel aufgiebt; wenn Kleist eine reine und unschuldige Menschheit malt, welche nach Tieck's schönem Worte durch die Finsternisse uns anblickt, so stellt Halm in das Zwielicht von Unglück und Schuld entschlossene oder verstockte Menschen, welche unsere Reflexion lebhafter in Anspruch nehmen, als unsere Empfindung; wenn endlich Kleist durch die Trauer über die Gebrechlichkeit der Welt, die von seinen Bildern auf uns übergeht, in uns jene Wehmuth erzeugt, die unsere Spannung gelinde lös't, so starrt uns in Halm's Erzählungen ein tückisches, schadenfrohes Schicksal an, das den Dichter selbst <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0007"/> ist. Wem die italienischen Fabulisten geläufig sind, der wird den Zögling derselben in Halm sofort erkennen: in dem Eigensinn, womit er einsetzt, der pastösen Farbe, sowie in der Wahl verfänglicher Themen. Wo jedoch der Italiener, so ernst sein Blick auch ist, nur spielt und mit einer graziösen Leichtfertigkeit die Entwicklung locker hält, dort zeigt sich unser deutscher Erzähler gründlich, dort spinnt er lange psychologische Fäden, welche nicht selten das Bündniß der schaulustigen Phantasie mit grübelnder Verstandesarbeit verrathen.</p><lb/> <p>Seine Neigung: die Wirkungen des merkwürdigen Vorfalls, auf den er den Ton legt, dialektisch in die Seelen seiner Helden zu verpflanzen, ferner die Art seiner Darstellung erinnern an Heinrich von Kleist. Der Dichter des „Kohlhaas“ und der „Marquise von O.“ hat ihm eingestandenermaßen als Muster vorgeschwebt. Wie Kleist bringt er die heftigen und detaillirten Gemüthsbewegungen seiner Personen in einen auffallenden Contrast zu dem antheillosen, der Relation verwandten Vortrage, setzt er das Unaufhaltsame des Schicksalsganges in ein unheimliches Gleichgewicht mit der Gelassenheit des epischen Berichts. Nicht weniger deutlich machen sich die Unterschiede Beider bemerkbar. Wenn Kleist uns durch die Naturgewalt der Leidenschaften erschüttert, so reizt Halm unsere Einbildungskraft, indem er seltsame Charakterräthsel aufgiebt; wenn Kleist eine reine und unschuldige Menschheit malt, welche nach Tieck's schönem Worte durch die Finsternisse uns anblickt, so stellt Halm in das Zwielicht von Unglück und Schuld entschlossene oder verstockte Menschen, welche unsere Reflexion lebhafter in Anspruch nehmen, als unsere Empfindung; wenn endlich Kleist durch die Trauer über die Gebrechlichkeit der Welt, die von seinen Bildern auf uns übergeht, in uns jene Wehmuth erzeugt, die unsere Spannung gelinde lös't, so starrt uns in Halm's Erzählungen ein tückisches, schadenfrohes Schicksal an, das den Dichter selbst<lb/></p> </div> </front> </text> </TEI> [0007]
ist. Wem die italienischen Fabulisten geläufig sind, der wird den Zögling derselben in Halm sofort erkennen: in dem Eigensinn, womit er einsetzt, der pastösen Farbe, sowie in der Wahl verfänglicher Themen. Wo jedoch der Italiener, so ernst sein Blick auch ist, nur spielt und mit einer graziösen Leichtfertigkeit die Entwicklung locker hält, dort zeigt sich unser deutscher Erzähler gründlich, dort spinnt er lange psychologische Fäden, welche nicht selten das Bündniß der schaulustigen Phantasie mit grübelnder Verstandesarbeit verrathen.
Seine Neigung: die Wirkungen des merkwürdigen Vorfalls, auf den er den Ton legt, dialektisch in die Seelen seiner Helden zu verpflanzen, ferner die Art seiner Darstellung erinnern an Heinrich von Kleist. Der Dichter des „Kohlhaas“ und der „Marquise von O.“ hat ihm eingestandenermaßen als Muster vorgeschwebt. Wie Kleist bringt er die heftigen und detaillirten Gemüthsbewegungen seiner Personen in einen auffallenden Contrast zu dem antheillosen, der Relation verwandten Vortrage, setzt er das Unaufhaltsame des Schicksalsganges in ein unheimliches Gleichgewicht mit der Gelassenheit des epischen Berichts. Nicht weniger deutlich machen sich die Unterschiede Beider bemerkbar. Wenn Kleist uns durch die Naturgewalt der Leidenschaften erschüttert, so reizt Halm unsere Einbildungskraft, indem er seltsame Charakterräthsel aufgiebt; wenn Kleist eine reine und unschuldige Menschheit malt, welche nach Tieck's schönem Worte durch die Finsternisse uns anblickt, so stellt Halm in das Zwielicht von Unglück und Schuld entschlossene oder verstockte Menschen, welche unsere Reflexion lebhafter in Anspruch nehmen, als unsere Empfindung; wenn endlich Kleist durch die Trauer über die Gebrechlichkeit der Welt, die von seinen Bildern auf uns übergeht, in uns jene Wehmuth erzeugt, die unsere Spannung gelinde lös't, so starrt uns in Halm's Erzählungen ein tückisches, schadenfrohes Schicksal an, das den Dichter selbst
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