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[Hamann, Johann Georg]: Sokratische Denkwürdigkeiten. Amsterdam [i. e. Königsberg], 1759.

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Erde; wie viel mehr werden unsere Begriffe
im Verborgenen gemacht, und können als
Gliedmassen unsers Verstandes betrachtet
werden. Daß ich sie Gliedmaassen des Ver-
standes nenne, hindert nicht, jeden Begrif
als eine besondere und ganze Geburt selbst
anzusehen. Sokrates war also bescheiden
genung seine Schulweisheit mit der Kunst
eines alten Weibes zu vergleichen, welches
blos der Arbeit der Mutter und ihrer zeiti-
gen Frucht zu Hülfe kommt, und beyden
Handreichung thut.

Die Kraft der Trägheit und die ihr ent-
gegengesetzt scheinende Kraft des Stolzes, die
man durch so viel Erscheinungen und Beob-
achtungen veranlasset worden in unserm Wil-
len anzunehmen, bringen die Unwissenheit,
und die daraus entspringende Jrrthümer
und Vorurtheile nebst allen ihren schwester-
lichen Leidenschaften hervor. Von dieser

Sei-

Erde; wie viel mehr werden unſere Begriffe
im Verborgenen gemacht, und koͤnnen als
Gliedmaſſen unſers Verſtandes betrachtet
werden. Daß ich ſie Gliedmaaſſen des Ver-
ſtandes nenne, hindert nicht, jeden Begrif
als eine beſondere und ganze Geburt ſelbſt
anzuſehen. Sokrates war alſo beſcheiden
genung ſeine Schulweisheit mit der Kunſt
eines alten Weibes zu vergleichen, welches
blos der Arbeit der Mutter und ihrer zeiti-
gen Frucht zu Huͤlfe kommt, und beyden
Handreichung thut.

Die Kraft der Traͤgheit und die ihr ent-
gegengeſetzt ſcheinende Kraft des Stolzes, die
man durch ſo viel Erſcheinungen und Beob-
achtungen veranlaſſet worden in unſerm Wil-
len anzunehmen, bringen die Unwiſſenheit,
und die daraus entſpringende Jrrthuͤmer
und Vorurtheile nebſt allen ihren ſchweſter-
lichen Leidenſchaften hervor. Von dieſer

Sei-
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[29/0033] Erde; wie viel mehr werden unſere Begriffe im Verborgenen gemacht, und koͤnnen als Gliedmaſſen unſers Verſtandes betrachtet werden. Daß ich ſie Gliedmaaſſen des Ver- ſtandes nenne, hindert nicht, jeden Begrif als eine beſondere und ganze Geburt ſelbſt anzuſehen. Sokrates war alſo beſcheiden genung ſeine Schulweisheit mit der Kunſt eines alten Weibes zu vergleichen, welches blos der Arbeit der Mutter und ihrer zeiti- gen Frucht zu Huͤlfe kommt, und beyden Handreichung thut. Die Kraft der Traͤgheit und die ihr ent- gegengeſetzt ſcheinende Kraft des Stolzes, die man durch ſo viel Erſcheinungen und Beob- achtungen veranlaſſet worden in unſerm Wil- len anzunehmen, bringen die Unwiſſenheit, und die daraus entſpringende Jrrthuͤmer und Vorurtheile nebſt allen ihren ſchweſter- lichen Leidenſchaften hervor. Von dieſer Sei-

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Zitationshilfe: [Hamann, Johann Georg]: Sokratische Denkwürdigkeiten. Amsterdam [i. e. Königsberg], 1759, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hamann_denkwuerdigkeiten_1759/33>, abgerufen am 21.11.2024.