Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite

ihn zu und sagte: Rabbi! -- Ich bin es, gab
er zur Antwort. Und Petrus kam näher, ganz
nahe, berührte seinen Augapfel und begann
ihn zu drehen: Der Jünger drehte den Erdball.
Die Stunde war da, sich dem Volke zu zeigen.
Auf den Balkon des Saales, den er bewohnte,
trat er hinaus. Unten wogte die Menge und
in das Bransen und Wogen sang eine einzige
dünne Kinderstimme: Christ ist erstanden.

Sie hatte kaum begonnen, als das Eisen
des Balkons nachgab. Er erschrak heftig, wachte
auf, rieb sich die Augen und wurde inne, daß
er auf der Bank eingeschlafen war. --

Gegen Mittag mochte es sein. Er wollte
wieder hinauf in den Buchenwald, um seine
Zeit abzuwarten. Die Sonne sollte ihn weihen,
dort oben.

Noch immer kühle und reine Luft, wie er
den Berg hinanstieg. Hymnen der Vögel. Der
Himmel wie eine blaßblaue, leere Krystallschale.
Alles so makellos. Alles so neu.

Auch er selbst war neu. Er betrachtete seine
Hand, es war die Hand eines Gottes; und wie
frei und rein war sein Geist! Und diese Un¬
gebundenheit der Glieder, diese völlige innere
Sicherheit und Scrupellosigkeit. Grübeln und

ihn zu und ſagte: Rabbi! — Ich bin es, gab
er zur Antwort. Und Petrus kam näher, ganz
nahe, berührte ſeinen Augapfel und begann
ihn zu drehen: Der Jünger drehte den Erdball.
Die Stunde war da, ſich dem Volke zu zeigen.
Auf den Balkon des Saales, den er bewohnte,
trat er hinaus. Unten wogte die Menge und
in das Branſen und Wogen ſang eine einzige
dünne Kinderſtimme: Chriſt iſt erſtanden.

Sie hatte kaum begonnen, als das Eiſen
des Balkons nachgab. Er erſchrak heftig, wachte
auf, rieb ſich die Augen und wurde inne, daß
er auf der Bank eingeſchlafen war. —

Gegen Mittag mochte es ſein. Er wollte
wieder hinauf in den Buchenwald, um ſeine
Zeit abzuwarten. Die Sonne ſollte ihn weihen,
dort oben.

Noch immer kühle und reine Luft, wie er
den Berg hinanſtieg. Hymnen der Vögel. Der
Himmel wie eine blaßblaue, leere Kryſtallſchale.
Alles ſo makellos. Alles ſo neu.

Auch er ſelbſt war neu. Er betrachtete ſeine
Hand, es war die Hand eines Gottes; und wie
frei und rein war ſein Geiſt! Und dieſe Un¬
gebundenheit der Glieder, dieſe völlige innere
Sicherheit und Scrupelloſigkeit. Grübeln und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0106" n="92"/>
ihn zu und &#x017F;agte: Rabbi! &#x2014; Ich bin es, gab<lb/>
er zur Antwort. Und Petrus kam näher, ganz<lb/>
nahe, berührte &#x017F;einen Augapfel und begann<lb/>
ihn zu drehen: Der Jünger drehte den Erdball.<lb/>
Die Stunde war da, &#x017F;ich dem Volke zu zeigen.<lb/>
Auf den Balkon des Saales, den er bewohnte,<lb/>
trat er hinaus. Unten wogte die Menge und<lb/>
in das Bran&#x017F;en und Wogen &#x017F;ang eine einzige<lb/>
dünne Kinder&#x017F;timme: Chri&#x017F;t i&#x017F;t er&#x017F;tanden.</p><lb/>
          <p>Sie hatte kaum begonnen, als das Ei&#x017F;en<lb/>
des Balkons nachgab. Er er&#x017F;chrak heftig, wachte<lb/>
auf, rieb &#x017F;ich die Augen und wurde inne, daß<lb/>
er auf der Bank einge&#x017F;chlafen war. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Gegen Mittag mochte es &#x017F;ein. Er wollte<lb/>
wieder hinauf in den Buchenwald, um &#x017F;eine<lb/>
Zeit abzuwarten. Die Sonne &#x017F;ollte ihn weihen,<lb/>
dort oben.</p><lb/>
          <p>Noch immer kühle und reine Luft, wie er<lb/>
den Berg hinan&#x017F;tieg. Hymnen der Vögel. Der<lb/>
Himmel wie eine blaßblaue, leere Kry&#x017F;tall&#x017F;chale.<lb/>
Alles &#x017F;o makellos. Alles &#x017F;o neu.</p><lb/>
          <p>Auch er &#x017F;elb&#x017F;t war neu. Er betrachtete &#x017F;eine<lb/>
Hand, es war die Hand eines Gottes; und wie<lb/>
frei und rein war &#x017F;ein Gei&#x017F;t! Und die&#x017F;e Un¬<lb/>
gebundenheit der Glieder, die&#x017F;e völlige innere<lb/>
Sicherheit und Scrupello&#x017F;igkeit. Grübeln und<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[92/0106] ihn zu und ſagte: Rabbi! — Ich bin es, gab er zur Antwort. Und Petrus kam näher, ganz nahe, berührte ſeinen Augapfel und begann ihn zu drehen: Der Jünger drehte den Erdball. Die Stunde war da, ſich dem Volke zu zeigen. Auf den Balkon des Saales, den er bewohnte, trat er hinaus. Unten wogte die Menge und in das Branſen und Wogen ſang eine einzige dünne Kinderſtimme: Chriſt iſt erſtanden. Sie hatte kaum begonnen, als das Eiſen des Balkons nachgab. Er erſchrak heftig, wachte auf, rieb ſich die Augen und wurde inne, daß er auf der Bank eingeſchlafen war. — Gegen Mittag mochte es ſein. Er wollte wieder hinauf in den Buchenwald, um ſeine Zeit abzuwarten. Die Sonne ſollte ihn weihen, dort oben. Noch immer kühle und reine Luft, wie er den Berg hinanſtieg. Hymnen der Vögel. Der Himmel wie eine blaßblaue, leere Kryſtallſchale. Alles ſo makellos. Alles ſo neu. Auch er ſelbſt war neu. Er betrachtete ſeine Hand, es war die Hand eines Gottes; und wie frei und rein war ſein Geiſt! Und dieſe Un¬ gebundenheit der Glieder, dieſe völlige innere Sicherheit und Scrupelloſigkeit. Grübeln und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892/106
Zitationshilfe: Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892/106>, abgerufen am 21.11.2024.