nicht nach. Weder vor noch rückwärts schiebt sich das Seil. -- Eine Plage war das, eine Qual -- beinahe ein physisches Leiden. Als er Schritte vernahm, freute er sich der Ablenkung. Ja, Du lieber Gott! Was war das überhaupt für ein Gedanke gewesen, jetzt schlafen zu wollen. Er stand auf, verwundert, daß er sich in seiner Kammer befand und öffnete die Thür nach dem Flur. Seine Mutter, wie er wußte, stand auf dem Gange, und er mußte sie herein¬ lassen. Sie kam, sah ihn an mit strahlender Vewunderung, ihre Lippen zitterten und sie faltete in Ehrfurcht ihre Hände. Er legte ihre Hände aufs Haupt und sprach; Stehe auf! -- und -- die Kranke erhob sich und konnte gehen. Und wie sie sich aufrichtete, erkannte er, daß es nicht seine Mutter war, sondern er, der Dulder von Nazareth. Nicht mir geheilt hatte er ihn; er hatte ihn lebendig gemacht. Noch wehten die Grabtücher um Jesu Leib. Er kam auf ihn zu und schritt in ihn hinein. Und eine unbeschreib¬ liche Musik tönte, als er so in ihn hineinging. Den ganzen geheimnisvollen Vorgang, als die Gestalt Jesu in der seinigen sich auflöste, empfand er genau. Er sah nun die Jünger, die den Meister suchten. Aus ihnen trat Petrus auf
nicht nach. Weder vor noch rückwärts ſchiebt ſich das Seil. — Eine Plage war das, eine Qual — beinahe ein phyſiſches Leiden. Als er Schritte vernahm, freute er ſich der Ablenkung. Ja, Du lieber Gott! Was war das überhaupt für ein Gedanke geweſen, jetzt ſchlafen zu wollen. Er ſtand auf, verwundert, daß er ſich in ſeiner Kammer befand und öffnete die Thür nach dem Flur. Seine Mutter, wie er wußte, ſtand auf dem Gange, und er mußte ſie herein¬ laſſen. Sie kam, ſah ihn an mit ſtrahlender Vewunderung, ihre Lippen zitterten und ſie faltete in Ehrfurcht ihre Hände. Er legte ihre Hände aufs Haupt und ſprach; Stehe auf! — und — die Kranke erhob ſich und konnte gehen. Und wie ſie ſich aufrichtete, erkannte er, daß es nicht ſeine Mutter war, ſondern er, der Dulder von Nazareth. Nicht mir geheilt hatte er ihn; er hatte ihn lebendig gemacht. Noch wehten die Grabtücher um Jeſu Leib. Er kam auf ihn zu und ſchritt in ihn hinein. Und eine unbeſchreib¬ liche Muſik tönte, als er ſo in ihn hineinging. Den ganzen geheimnisvollen Vorgang, als die Geſtalt Jeſu in der ſeinigen ſich auflöſte, empfand er genau. Er ſah nun die Jünger, die den Meiſter ſuchten. Aus ihnen trat Petrus auf
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nicht nach. Weder vor noch rückwärts ſchiebt
ſich das Seil. — Eine Plage war das, eine
Qual — beinahe ein phyſiſches Leiden. Als er
Schritte vernahm, freute er ſich der Ablenkung.
Ja, Du lieber Gott! Was war das überhaupt
für ein Gedanke geweſen, jetzt ſchlafen zu wollen.
Er ſtand auf, verwundert, daß er ſich in ſeiner
Kammer befand und öffnete die Thür nach dem
Flur. Seine Mutter, wie er wußte, ſtand
auf dem Gange, und er mußte ſie herein¬
laſſen. Sie kam, ſah ihn an mit ſtrahlender
Vewunderung, ihre Lippen zitterten und ſie
faltete in Ehrfurcht ihre Hände. Er legte ihre
Hände aufs Haupt und ſprach; Stehe auf! —
und — die Kranke erhob ſich und konnte gehen.
Und wie ſie ſich aufrichtete, erkannte er, daß es
nicht ſeine Mutter war, ſondern er, der Dulder
von Nazareth. Nicht mir geheilt hatte er ihn;
er hatte ihn lebendig gemacht. Noch wehten die
Grabtücher um Jeſu Leib. Er kam auf ihn zu
und ſchritt in ihn hinein. Und eine unbeſchreib¬
liche Muſik tönte, als er ſo in ihn hineinging.
Den ganzen geheimnisvollen Vorgang, als die
Geſtalt Jeſu in der ſeinigen ſich auflöſte, empfand
er genau. Er ſah nun die Jünger, die den
Meiſter ſuchten. Aus ihnen trat Petrus auf
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Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892/105>, abgerufen am 16.02.2025.
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