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Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892.

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In einer Winternacht hatte der Schnellzug einen
Rehbock überfahren. An einem heißen Sommer¬
tage hatte Thiel bei seiner Streckenrevision eine
verkorkte Weinflasche gefunden, die sich glühend
heiß anfaßte, und deren Inhalt deshalb von
Thiel für sehr gut gehalten wurde, weil er nach
Entfernung des Korkes einer Fontäne gleich
herausquoll, also augenscheinlich gegohren war.
Diese Flasche, von Thiel in den seichten Rand
eines Waldsees gelegt, um abzukühlen, war von
dort auf irgend welche Weise abhanden ge¬
kommen, so daß Thiel noch nach Jahren ihren
Verlust bedauern mußte.

Einige Zerstreuung vermittelte dem Wärter
ein Brunnen dicht hinter seinem Häuschen.
Von Zeit zu Zeit nahmen in der Nähe be¬
schäftigte Bahn- oder Telegraphenarbeiter einen
Trunk daraus, wobei natürlich ein kurzes Ge¬
spräch mit unterlief. Auch der Förster kam
zuweilen, um seinen Durst zu löschen.

Tobias entwickelte sich nur langsam, erst
gegen Ablauf seines zweiten Lebensjahres lernte
er notdürftig sprechen und gehen. Dem Vater
bewies er eine ganz besondere Zuneigung. Wie
er verständiger wurde, erwachte auch die alte
Liebe des Vaters wieder. In dem Maße, wie

In einer Winternacht hatte der Schnellzug einen
Rehbock überfahren. An einem heißen Sommer¬
tage hatte Thiel bei ſeiner Streckenreviſion eine
verkorkte Weinflaſche gefunden, die ſich glühend
heiß anfaßte, und deren Inhalt deshalb von
Thiel für ſehr gut gehalten wurde, weil er nach
Entfernung des Korkes einer Fontäne gleich
herausquoll, alſo augenſcheinlich gegohren war.
Dieſe Flaſche, von Thiel in den ſeichten Rand
eines Waldſees gelegt, um abzukühlen, war von
dort auf irgend welche Weiſe abhanden ge¬
kommen, ſo daß Thiel noch nach Jahren ihren
Verluſt bedauern mußte.

Einige Zerſtreuung vermittelte dem Wärter
ein Brunnen dicht hinter ſeinem Häuschen.
Von Zeit zu Zeit nahmen in der Nähe be¬
ſchäftigte Bahn- oder Telegraphenarbeiter einen
Trunk daraus, wobei natürlich ein kurzes Ge¬
ſpräch mit unterlief. Auch der Förſter kam
zuweilen, um ſeinen Durſt zu löſchen.

Tobias entwickelte ſich nur langſam, erſt
gegen Ablauf ſeines zweiten Lebensjahres lernte
er notdürftig ſprechen und gehen. Dem Vater
bewies er eine ganz beſondere Zuneigung. Wie
er verſtändiger wurde, erwachte auch die alte
Liebe des Vaters wieder. In dem Maße, wie

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[10/0022] In einer Winternacht hatte der Schnellzug einen Rehbock überfahren. An einem heißen Sommer¬ tage hatte Thiel bei ſeiner Streckenreviſion eine verkorkte Weinflaſche gefunden, die ſich glühend heiß anfaßte, und deren Inhalt deshalb von Thiel für ſehr gut gehalten wurde, weil er nach Entfernung des Korkes einer Fontäne gleich herausquoll, alſo augenſcheinlich gegohren war. Dieſe Flaſche, von Thiel in den ſeichten Rand eines Waldſees gelegt, um abzukühlen, war von dort auf irgend welche Weiſe abhanden ge¬ kommen, ſo daß Thiel noch nach Jahren ihren Verluſt bedauern mußte. Einige Zerſtreuung vermittelte dem Wärter ein Brunnen dicht hinter ſeinem Häuschen. Von Zeit zu Zeit nahmen in der Nähe be¬ ſchäftigte Bahn- oder Telegraphenarbeiter einen Trunk daraus, wobei natürlich ein kurzes Ge¬ ſpräch mit unterlief. Auch der Förſter kam zuweilen, um ſeinen Durſt zu löſchen. Tobias entwickelte ſich nur langſam, erſt gegen Ablauf ſeines zweiten Lebensjahres lernte er notdürftig ſprechen und gehen. Dem Vater bewies er eine ganz beſondere Zuneigung. Wie er verſtändiger wurde, erwachte auch die alte Liebe des Vaters wieder. In dem Maße, wie

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Zitationshilfe: Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892/22>, abgerufen am 27.04.2024.