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Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892.

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Jemand sein Heiligstes anzutasten, und unwill¬
kürlich spannten sich seine Muskeln in gelindem
Krampfe, während ein kurzes herausforderndes
Lachen seinen Lippen entfuhr. Vom Widerhall
dieses Lachens erschreckt, blickte er auf und ver¬
lor dabei den Faden seiner Betrachtungen. Als
er ihn wieder gefunden, wühlte er sich gleichsam
in den alten Gegenstand.

Und plötzlich zerriß etwas wie ein dichter,
schwarzer Vorhang in zwei Stücke, und seine
umnebelten Augen gewannen einen klaren Aus¬
blick. Es war ihm auf einmal zumute, als
erwache er aus einem zweijährigen totenähnlichen
Schlaf und betrachte nun mit ungläubigem
Kopfschütteln all das Haarsträubende, welches
er in diesem Zustand begangen haben sollte.
Die Leidensgeschichte seines Aeltesten, welche die
Eindrücke der letzten Stunden nur noch hatten
besiegeln können, trat deutlich vor seine Seele.
Mitleid und Reue ergriff ihn, sowie auch eine
tiefe Scham darüber, daß er diese ganze Zeit
in schmachvoller Duldung hingelebt hatte, ohne
sich des lieben, hilflosen Geschöpfes anzunehmen,
ja, ohne auch nur die Kraft zu finden, sich ein¬
zugestehen, wie sehr dieses litt.

Ueber den selbstquälerischen Vorstellungen

Jemand ſein Heiligſtes anzutaſten, und unwill¬
kürlich ſpannten ſich ſeine Muskeln in gelindem
Krampfe, während ein kurzes herauſforderndes
Lachen ſeinen Lippen entfuhr. Vom Widerhall
dieſes Lachens erſchreckt, blickte er auf und ver¬
lor dabei den Faden ſeiner Betrachtungen. Als
er ihn wieder gefunden, wühlte er ſich gleichſam
in den alten Gegenſtand.

Und plötzlich zerriß etwas wie ein dichter,
ſchwarzer Vorhang in zwei Stücke, und ſeine
umnebelten Augen gewannen einen klaren Aus¬
blick. Es war ihm auf einmal zumute, als
erwache er aus einem zweijährigen totenähnlichen
Schlaf und betrachte nun mit ungläubigem
Kopfſchütteln all das Haarſträubende, welches
er in dieſem Zuſtand begangen haben ſollte.
Die Leidensgeſchichte ſeines Aelteſten, welche die
Eindrücke der letzten Stunden nur noch hatten
beſiegeln können, trat deutlich vor ſeine Seele.
Mitleid und Reue ergriff ihn, ſowie auch eine
tiefe Scham darüber, daß er dieſe ganze Zeit
in ſchmachvoller Duldung hingelebt hatte, ohne
ſich des lieben, hilfloſen Geſchöpfes anzunehmen,
ja, ohne auch nur die Kraft zu finden, ſich ein¬
zugeſtehen, wie ſehr dieſes litt.

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[30/0042] Jemand ſein Heiligſtes anzutaſten, und unwill¬ kürlich ſpannten ſich ſeine Muskeln in gelindem Krampfe, während ein kurzes herauſforderndes Lachen ſeinen Lippen entfuhr. Vom Widerhall dieſes Lachens erſchreckt, blickte er auf und ver¬ lor dabei den Faden ſeiner Betrachtungen. Als er ihn wieder gefunden, wühlte er ſich gleichſam in den alten Gegenſtand. Und plötzlich zerriß etwas wie ein dichter, ſchwarzer Vorhang in zwei Stücke, und ſeine umnebelten Augen gewannen einen klaren Aus¬ blick. Es war ihm auf einmal zumute, als erwache er aus einem zweijährigen totenähnlichen Schlaf und betrachte nun mit ungläubigem Kopfſchütteln all das Haarſträubende, welches er in dieſem Zuſtand begangen haben ſollte. Die Leidensgeſchichte ſeines Aelteſten, welche die Eindrücke der letzten Stunden nur noch hatten beſiegeln können, trat deutlich vor ſeine Seele. Mitleid und Reue ergriff ihn, ſowie auch eine tiefe Scham darüber, daß er dieſe ganze Zeit in ſchmachvoller Duldung hingelebt hatte, ohne ſich des lieben, hilfloſen Geſchöpfes anzunehmen, ja, ohne auch nur die Kraft zu finden, ſich ein¬ zugeſtehen, wie ſehr dieſes litt. Ueber den ſelbſtquäleriſchen Vorſtellungen

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Zitationshilfe: Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892/42>, abgerufen am 27.04.2024.