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Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892.

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totbleichen, erschreckten Gesichter der Reisenden
in den Zugfenstern. Eine junge Frau schaut
heraus, ein Handlungsreisender im Fez, ein
junges Paar, anscheinend auf der Hochzeitsreise.
Was geht's ihn an? Er hat sich nie um den
Inhalt dieser Polterkasten bekümmert; -- sein
Ohr füllt das Geheul Lenens. Vor seinen
Augen schwimmt es durcheinander, gelbe Punkte,
Glühwürmchen gleich, unzählig. Er schrickt
zurück -- er steht. Aus dem Tanze der Glüh¬
würmchen tritt es hervor, blaß, schlaff, blut¬
rünstig. Eine Stirn, braun und blau geschlagen,
blaue Lippen, über die schwarzes Blut tröpfelt.
Er ist es.

Thiel spricht nicht, sein Gesicht nimmt eine
schmutzige Blässe an, er lächelt wie abwesend,
endlich beugt er sich, er fühlt die schlaffen, toten
Gliedmaßen schwer in seinen Armen; die rote
Fahne wickelt sich darum.

Er geht.

Wohin?

"Zum Bahnarzt, zum Bahnarzt." tönt es
durcheinander.

"Wir nehmen ihn gleich mit," ruft der Pack¬
meister und macht in seinem Wagen aus Dienst¬
röcken und Büchern ein Lager zurecht. "Nun also?"

totbleichen, erſchreckten Geſichter der Reiſenden
in den Zugfenſtern. Eine junge Frau ſchaut
heraus, ein Handlungsreiſender im Fez, ein
junges Paar, anſcheinend auf der Hochzeitsreiſe.
Was geht's ihn an? Er hat ſich nie um den
Inhalt dieſer Polterkaſten bekümmert; — ſein
Ohr füllt das Geheul Lenens. Vor ſeinen
Augen ſchwimmt es durcheinander, gelbe Punkte,
Glühwürmchen gleich, unzählig. Er ſchrickt
zurück — er ſteht. Aus dem Tanze der Glüh¬
würmchen tritt es hervor, blaß, ſchlaff, blut¬
rünſtig. Eine Stirn, braun und blau geſchlagen,
blaue Lippen, über die ſchwarzes Blut tröpfelt.
Er iſt es.

Thiel ſpricht nicht, ſein Geſicht nimmt eine
ſchmutzige Bläſſe an, er lächelt wie abweſend,
endlich beugt er ſich, er fühlt die ſchlaffen, toten
Gliedmaßen ſchwer in ſeinen Armen; die rote
Fahne wickelt ſich darum.

Er geht.

Wohin?

„Zum Bahnarzt, zum Bahnarzt.“ tönt es
durcheinander.

„Wir nehmen ihn gleich mit,“ ruft der Pack¬
meiſter und macht in ſeinem Wagen aus Dienſt¬
röcken und Büchern ein Lager zurecht. „Nun alſo?“

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[47/0059] totbleichen, erſchreckten Geſichter der Reiſenden in den Zugfenſtern. Eine junge Frau ſchaut heraus, ein Handlungsreiſender im Fez, ein junges Paar, anſcheinend auf der Hochzeitsreiſe. Was geht's ihn an? Er hat ſich nie um den Inhalt dieſer Polterkaſten bekümmert; — ſein Ohr füllt das Geheul Lenens. Vor ſeinen Augen ſchwimmt es durcheinander, gelbe Punkte, Glühwürmchen gleich, unzählig. Er ſchrickt zurück — er ſteht. Aus dem Tanze der Glüh¬ würmchen tritt es hervor, blaß, ſchlaff, blut¬ rünſtig. Eine Stirn, braun und blau geſchlagen, blaue Lippen, über die ſchwarzes Blut tröpfelt. Er iſt es. Thiel ſpricht nicht, ſein Geſicht nimmt eine ſchmutzige Bläſſe an, er lächelt wie abweſend, endlich beugt er ſich, er fühlt die ſchlaffen, toten Gliedmaßen ſchwer in ſeinen Armen; die rote Fahne wickelt ſich darum. Er geht. Wohin? „Zum Bahnarzt, zum Bahnarzt.“ tönt es durcheinander. „Wir nehmen ihn gleich mit,“ ruft der Pack¬ meiſter und macht in ſeinem Wagen aus Dienſt¬ röcken und Büchern ein Lager zurecht. „Nun alſo?“

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Zitationshilfe: Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892/59>, abgerufen am 09.05.2024.