Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite

eine Weise seinem Leben überhaupt ein Ende
zu machen.

Wäre er jetzt allein gewesen, würde er den
Strick um seinen Kopf, der wie ein Heiligen¬
schein aussah, heruntergerissen und verbrannt
haben. Nie unter einer Narrenkrone aus Papier,
halb vernichtet vor Scham, ging er darunter.

In enge labyrinthische Gäßchen ohne Sonne
hatte er eingelenkt. Ein kleines Fensterchen
voller Backwaare zog ihn an. Er öffnete die
Glasthür und trat in den Laden. Der Bäcker
sah ihn an -- die Bäckersfrau -- er wählte
ein kleines Brod, sagte nichts und ging.

Vor der Thür hatte sich eine Schaar Neu¬
gieriger angesammelt: eine alte Frau, Kinder,
ein Schlächtergesell, die Mulde mit rothen
Fleischstücken auf der Schulter. Er überflog
ihre Gesichter, es war nichts Freches darin und
ging mitten durch sie hin seines Weges.

Mit welchem Ausdruck sie ihn alle angeblickt
hatten. Erst die Bäckersleute. Als ob er des
kleinen Brodes nicht zum Essen bedürfe, sondern
vielmehr, um damit ein Wunder zu thun. Und
weshalb warteten die Leute auf ihn vor den
Thüren? Es mußte doch einen Grund haben.
Und nun gar das Getrappel und Geflüster hinter

6*

eine Weiſe ſeinem Leben überhaupt ein Ende
zu machen.

Wäre er jetzt allein geweſen, würde er den
Strick um ſeinen Kopf, der wie ein Heiligen¬
ſchein ausſah, heruntergeriſſen und verbrannt
haben. Nie unter einer Narrenkrone aus Papier,
halb vernichtet vor Scham, ging er darunter.

In enge labyrinthiſche Gäßchen ohne Sonne
hatte er eingelenkt. Ein kleines Fenſterchen
voller Backwaare zog ihn an. Er öffnete die
Glasthür und trat in den Laden. Der Bäcker
ſah ihn an — die Bäckersfrau — er wählte
ein kleines Brod, ſagte nichts und ging.

Vor der Thür hatte ſich eine Schaar Neu¬
gieriger angeſammelt: eine alte Frau, Kinder,
ein Schlächtergeſell, die Mulde mit rothen
Fleiſchſtücken auf der Schulter. Er überflog
ihre Geſichter, es war nichts Freches darin und
ging mitten durch ſie hin ſeines Weges.

Mit welchem Ausdruck ſie ihn alle angeblickt
hatten. Erſt die Bäckersleute. Als ob er des
kleinen Brodes nicht zum Eſſen bedürfe, ſondern
vielmehr, um damit ein Wunder zu thun. Und
weshalb warteten die Leute auf ihn vor den
Thüren? Es mußte doch einen Grund haben.
Und nun gar das Getrappel und Geflüſter hinter

6*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0096" n="82"/>
eine Wei&#x017F;e &#x017F;einem Leben überhaupt ein Ende<lb/>
zu machen.</p><lb/>
          <p>Wäre er jetzt allein gewe&#x017F;en, würde er den<lb/>
Strick um &#x017F;einen Kopf, der wie ein Heiligen¬<lb/>
&#x017F;chein aus&#x017F;ah, heruntergeri&#x017F;&#x017F;en und verbrannt<lb/>
haben. Nie unter einer Narrenkrone aus Papier,<lb/>
halb vernichtet vor Scham, ging er darunter.</p><lb/>
          <p>In enge labyrinthi&#x017F;che Gäßchen ohne Sonne<lb/>
hatte er eingelenkt. Ein kleines Fen&#x017F;terchen<lb/>
voller Backwaare zog ihn an. Er öffnete die<lb/>
Glasthür und trat in den Laden. Der Bäcker<lb/>
&#x017F;ah ihn an &#x2014; die Bäckersfrau &#x2014; er wählte<lb/>
ein kleines Brod, &#x017F;agte nichts und ging.</p><lb/>
          <p>Vor der Thür hatte &#x017F;ich eine Schaar Neu¬<lb/>
gieriger ange&#x017F;ammelt: eine alte Frau, Kinder,<lb/>
ein Schlächterge&#x017F;ell, die Mulde mit rothen<lb/>
Flei&#x017F;ch&#x017F;tücken auf der Schulter. Er überflog<lb/>
ihre Ge&#x017F;ichter, es war nichts Freches darin und<lb/>
ging mitten durch &#x017F;ie hin &#x017F;eines Weges.</p><lb/>
          <p>Mit welchem Ausdruck &#x017F;ie ihn alle angeblickt<lb/>
hatten. Er&#x017F;t die Bäckersleute. Als ob er des<lb/>
kleinen Brodes nicht zum E&#x017F;&#x017F;en bedürfe, &#x017F;ondern<lb/>
vielmehr, um damit ein Wunder zu thun. Und<lb/>
weshalb warteten die Leute auf ihn vor den<lb/>
Thüren? Es mußte doch einen Grund haben.<lb/>
Und nun gar das Getrappel und Geflü&#x017F;ter hinter<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">6*<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[82/0096] eine Weiſe ſeinem Leben überhaupt ein Ende zu machen. Wäre er jetzt allein geweſen, würde er den Strick um ſeinen Kopf, der wie ein Heiligen¬ ſchein ausſah, heruntergeriſſen und verbrannt haben. Nie unter einer Narrenkrone aus Papier, halb vernichtet vor Scham, ging er darunter. In enge labyrinthiſche Gäßchen ohne Sonne hatte er eingelenkt. Ein kleines Fenſterchen voller Backwaare zog ihn an. Er öffnete die Glasthür und trat in den Laden. Der Bäcker ſah ihn an — die Bäckersfrau — er wählte ein kleines Brod, ſagte nichts und ging. Vor der Thür hatte ſich eine Schaar Neu¬ gieriger angeſammelt: eine alte Frau, Kinder, ein Schlächtergeſell, die Mulde mit rothen Fleiſchſtücken auf der Schulter. Er überflog ihre Geſichter, es war nichts Freches darin und ging mitten durch ſie hin ſeines Weges. Mit welchem Ausdruck ſie ihn alle angeblickt hatten. Erſt die Bäckersleute. Als ob er des kleinen Brodes nicht zum Eſſen bedürfe, ſondern vielmehr, um damit ein Wunder zu thun. Und weshalb warteten die Leute auf ihn vor den Thüren? Es mußte doch einen Grund haben. Und nun gar das Getrappel und Geflüſter hinter 6*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892/96
Zitationshilfe: Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892/96>, abgerufen am 09.05.2024.