Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hebbel, Friedrich: Maria Magdalene. Hamburg, 1844.

Bild:
<< vorherige Seite

der Tragödie veranschaulicht, alles Leiden aber ist
im Individuum ein nach innen gekehrtes Handeln,
und wie unser Interesse mit eben so großer Befriedi-
gung auf dem Menschen ruht, wenn er sich auf sich
selbst, auf das Ewige und Unvergängliche im zerschmet-
terten Individuum besinnt und sich dadurch wieder
herstellt, was im Leiden geschieht, als wenn er dem
Ewigen und Unvergänglichen in individueller Ge-
bundenheit Trotz bietet, und dafür von diesem, das
über alle Manifestation hinausgeht, wie z. B. un-
ser Gedanke über die Hand, die er in Thätigkeit
setzt, und das selbst dann, wenn ihm der Wille
nicht entgegen tritt, noch im Ich auf eine hem-
mende Schranke stoßen kann, die strenge Zurecht-
weisung empfängt, so ist das Eine auch eben so
gut darstellbar, wie das Andere, und erfor-
dert höchstens den größeren Künstler. Ich wie-
derhole es: eine Dichtung, die sich für eine dra-
matische giebt, muß darstellbar sein, weil, was der
Künstler nicht darzustellen vermag, von dem Dich-
ter selbst nicht dargestellt wurde, sondern Embryo
und Gedanken-Schemen blieb. Dieser innere Grund
ist zugleich der einzige, die mimische Darstellbarkeit

der Tragödie veranſchaulicht, alles Leiden aber iſt
im Individuum ein nach innen gekehrtes Handeln,
und wie unſer Intereſſe mit eben ſo großer Befriedi-
gung auf dem Menſchen ruht, wenn er ſich auf ſich
ſelbſt, auf das Ewige und Unvergängliche im zerſchmet-
terten Individuum beſinnt und ſich dadurch wieder
herſtellt, was im Leiden geſchieht, als wenn er dem
Ewigen und Unvergänglichen in individueller Ge-
bundenheit Trotz bietet, und dafür von dieſem, das
über alle Manifeſtation hinausgeht, wie z. B. un-
ſer Gedanke über die Hand, die er in Thätigkeit
ſetzt, und das ſelbſt dann, wenn ihm der Wille
nicht entgegen tritt, noch im Ich auf eine hem-
mende Schranke ſtoßen kann, die ſtrenge Zurecht-
weiſung empfängt, ſo iſt das Eine auch eben ſo
gut darſtellbar, wie das Andere, und erfor-
dert höchſtens den größeren Künſtler. Ich wie-
derhole es: eine Dichtung, die ſich für eine dra-
matiſche giebt, muß darſtellbar ſein, weil, was der
Künſtler nicht darzuſtellen vermag, von dem Dich-
ter ſelbſt nicht dargeſtellt wurde, ſondern Embryo
und Gedanken-Schemen blieb. Dieſer innere Grund
iſt zugleich der einzige, die mimiſche Darſtellbarkeit

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0045" n="XXV"/>
der Tragödie veran&#x017F;chaulicht, alles Leiden aber i&#x017F;t<lb/>
im Individuum ein nach innen gekehrtes Handeln,<lb/>
und wie un&#x017F;er Intere&#x017F;&#x017F;e mit eben &#x017F;o großer Befriedi-<lb/>
gung auf dem Men&#x017F;chen ruht, wenn er &#x017F;ich auf &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t, auf das Ewige und Unvergängliche im zer&#x017F;chmet-<lb/>
terten Individuum be&#x017F;innt und &#x017F;ich dadurch wieder<lb/>
her&#x017F;tellt, was im Leiden ge&#x017F;chieht, als wenn er dem<lb/>
Ewigen und Unvergänglichen in individueller Ge-<lb/>
bundenheit Trotz bietet, und dafür von die&#x017F;em, das<lb/>
über alle Manife&#x017F;tation hinausgeht, wie z. B. un-<lb/>
&#x017F;er Gedanke über die Hand, die er in Thätigkeit<lb/>
&#x017F;etzt, und das &#x017F;elb&#x017F;t dann, wenn ihm der Wille<lb/>
nicht entgegen tritt, noch im Ich auf eine hem-<lb/>
mende Schranke &#x017F;toßen kann, die &#x017F;trenge Zurecht-<lb/>
wei&#x017F;ung empfängt, &#x017F;o i&#x017F;t das <hi rendition="#g">Eine</hi> auch eben &#x017F;o<lb/>
gut <hi rendition="#g">dar&#x017F;tellbar</hi>, wie das <hi rendition="#g">Andere</hi>, und erfor-<lb/>
dert höch&#x017F;tens <hi rendition="#g">den größeren</hi> Kün&#x017F;tler. Ich wie-<lb/>
derhole es: eine Dichtung, die &#x017F;ich für eine dra-<lb/>
mati&#x017F;che giebt, muß dar&#x017F;tellbar &#x017F;ein, weil, was der<lb/>
Kün&#x017F;tler nicht darzu&#x017F;tellen vermag, von dem Dich-<lb/>
ter &#x017F;elb&#x017F;t nicht darge&#x017F;tellt wurde, &#x017F;ondern Embryo<lb/>
und Gedanken-Schemen blieb. Die&#x017F;er innere Grund<lb/>
i&#x017F;t zugleich der einzige, die mimi&#x017F;che Dar&#x017F;tellbarkeit<lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[XXV/0045] der Tragödie veranſchaulicht, alles Leiden aber iſt im Individuum ein nach innen gekehrtes Handeln, und wie unſer Intereſſe mit eben ſo großer Befriedi- gung auf dem Menſchen ruht, wenn er ſich auf ſich ſelbſt, auf das Ewige und Unvergängliche im zerſchmet- terten Individuum beſinnt und ſich dadurch wieder herſtellt, was im Leiden geſchieht, als wenn er dem Ewigen und Unvergänglichen in individueller Ge- bundenheit Trotz bietet, und dafür von dieſem, das über alle Manifeſtation hinausgeht, wie z. B. un- ſer Gedanke über die Hand, die er in Thätigkeit ſetzt, und das ſelbſt dann, wenn ihm der Wille nicht entgegen tritt, noch im Ich auf eine hem- mende Schranke ſtoßen kann, die ſtrenge Zurecht- weiſung empfängt, ſo iſt das Eine auch eben ſo gut darſtellbar, wie das Andere, und erfor- dert höchſtens den größeren Künſtler. Ich wie- derhole es: eine Dichtung, die ſich für eine dra- matiſche giebt, muß darſtellbar ſein, weil, was der Künſtler nicht darzuſtellen vermag, von dem Dich- ter ſelbſt nicht dargeſtellt wurde, ſondern Embryo und Gedanken-Schemen blieb. Dieſer innere Grund iſt zugleich der einzige, die mimiſche Darſtellbarkeit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hebbel_magdalene_1844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hebbel_magdalene_1844/45
Zitationshilfe: Hebbel, Friedrich: Maria Magdalene. Hamburg, 1844, S. XXV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hebbel_magdalene_1844/45>, abgerufen am 21.11.2024.