Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hebbel, Friedrich: Maria Magdalene. Hamburg, 1844.

Bild:
<< vorherige Seite
mache bloß Erfahrungen über sie, und nehme mir ein
Beispiel an meinen beiden Augen, die auch nicht den-
ken, sondern nur sehen. Ueber Ihn glaubte ich schon
eine ganze Erfahrung gemacht zu haben, nun finde ich
Ihn hier, und muß bekennen, daß es doch nur eine
halbe gewesen ist!
Leonhard.
Meister Anton, Er macht es ganz verkehrt. Der
Baum hängt von Wind und Wetter ab, der Mensch
hat in sich Gesetz und Regel!
Meister Anton.
Meint Er? Ja, wir Alten sind dem Tod vielen
Dank schuldig, daß er uns noch so lange unter Euch
Jungen herum laufen läßt, und uns Gelegenheit giebt,
uns zu bilden. Früher glaubte die dumme Welt, der
Vater sey dazu da, um den Sohn zu erziehen. Um-
gekehrt, der Sohn soll dem Vater die letzte Politur
geben, damit der arme einfältige Mann sich im Grabe
nicht vor den Würmern zu schämen braucht. Gott
Lob, ich habe in meinem Karl einen braven Lehrer,
der rücksichtslos und ohne das alte Kind durch Nach-
sicht zu verzärteln, gegen meine Vorurtheile zu Felde
mache bloß Erfahrungen über ſie, und nehme mir ein
Beiſpiel an meinen beiden Augen, die auch nicht den-
ken, ſondern nur ſehen. Ueber Ihn glaubte ich ſchon
eine ganze Erfahrung gemacht zu haben, nun finde ich
Ihn hier, und muß bekennen, daß es doch nur eine
halbe geweſen iſt!
Leonhard.
Meiſter Anton, Er macht es ganz verkehrt. Der
Baum hängt von Wind und Wetter ab, der Menſch
hat in ſich Geſetz und Regel!
Meiſter Anton.
Meint Er? Ja, wir Alten ſind dem Tod vielen
Dank ſchuldig, daß er uns noch ſo lange unter Euch
Jungen herum laufen läßt, und uns Gelegenheit giebt,
uns zu bilden. Früher glaubte die dumme Welt, der
Vater ſey dazu da, um den Sohn zu erziehen. Um-
gekehrt, der Sohn ſoll dem Vater die letzte Politur
geben, damit der arme einfältige Mann ſich im Grabe
nicht vor den Würmern zu ſchämen braucht. Gott
Lob, ich habe in meinem Karl einen braven Lehrer,
der rückſichtslos und ohne das alte Kind durch Nach-
ſicht zu verzärteln, gegen meine Vorurtheile zu Felde
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <sp who="#ANTON">
            <p><pb facs="#f0097" n="29"/>
mache bloß Erfahrungen über &#x017F;ie, und nehme mir ein<lb/>
Bei&#x017F;piel an meinen beiden Augen, die auch nicht den-<lb/>
ken, &#x017F;ondern nur &#x017F;ehen. Ueber Ihn glaubte ich &#x017F;chon<lb/>
eine ganze Erfahrung gemacht zu haben, nun finde ich<lb/>
Ihn hier, und muß bekennen, daß es doch nur eine<lb/>
halbe gewe&#x017F;en i&#x017F;t!</p>
          </sp><lb/>
          <sp who="#LEO">
            <speaker><hi rendition="#g">Leonhard</hi>.</speaker><lb/>
            <p>Mei&#x017F;ter Anton, Er macht es ganz verkehrt. Der<lb/>
Baum hängt von Wind und Wetter ab, der Men&#x017F;ch<lb/>
hat in &#x017F;ich Ge&#x017F;etz und Regel!</p>
          </sp><lb/>
          <sp who="#ANTON">
            <speaker><hi rendition="#g">Mei&#x017F;ter Anton</hi>.</speaker><lb/>
            <p>Meint Er? Ja, wir Alten &#x017F;ind dem Tod vielen<lb/>
Dank &#x017F;chuldig, daß er uns noch &#x017F;o lange unter Euch<lb/>
Jungen herum laufen läßt, und uns Gelegenheit giebt,<lb/>
uns zu bilden. Früher glaubte die dumme Welt, der<lb/>
Vater &#x017F;ey dazu da, um den Sohn zu erziehen. Um-<lb/>
gekehrt, der Sohn &#x017F;oll dem Vater die letzte Politur<lb/>
geben, damit der arme einfältige Mann &#x017F;ich im Grabe<lb/>
nicht vor den Würmern zu &#x017F;chämen braucht. Gott<lb/>
Lob, ich habe in meinem Karl einen braven Lehrer,<lb/>
der rück&#x017F;ichtslos und ohne das alte Kind durch Nach-<lb/>
&#x017F;icht zu verzärteln, gegen meine Vorurtheile zu Felde<lb/></p>
          </sp>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[29/0097] mache bloß Erfahrungen über ſie, und nehme mir ein Beiſpiel an meinen beiden Augen, die auch nicht den- ken, ſondern nur ſehen. Ueber Ihn glaubte ich ſchon eine ganze Erfahrung gemacht zu haben, nun finde ich Ihn hier, und muß bekennen, daß es doch nur eine halbe geweſen iſt! Leonhard. Meiſter Anton, Er macht es ganz verkehrt. Der Baum hängt von Wind und Wetter ab, der Menſch hat in ſich Geſetz und Regel! Meiſter Anton. Meint Er? Ja, wir Alten ſind dem Tod vielen Dank ſchuldig, daß er uns noch ſo lange unter Euch Jungen herum laufen läßt, und uns Gelegenheit giebt, uns zu bilden. Früher glaubte die dumme Welt, der Vater ſey dazu da, um den Sohn zu erziehen. Um- gekehrt, der Sohn ſoll dem Vater die letzte Politur geben, damit der arme einfältige Mann ſich im Grabe nicht vor den Würmern zu ſchämen braucht. Gott Lob, ich habe in meinem Karl einen braven Lehrer, der rückſichtslos und ohne das alte Kind durch Nach- ſicht zu verzärteln, gegen meine Vorurtheile zu Felde

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hebbel_magdalene_1844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hebbel_magdalene_1844/97
Zitationshilfe: Hebbel, Friedrich: Maria Magdalene. Hamburg, 1844, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hebbel_magdalene_1844/97>, abgerufen am 24.11.2024.