Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Wissenschaft. Erster Theil: Die Phänomenologie des Geistes. Bamberg u. a., 1807.

Bild:
<< vorherige Seite

Art, dass es in seinem Wesen liegt, in Wahrheit
etwas anderes zu seyn, als nur sinnliches unmittel-
bares Seyn. Es ist zwar auch eben dieses im Sinn-
lichen aus ihm in sich Reflectirtseyn, was gegenwär-
tig, die Sichtbarkeit als Sichtbarkeit des Unsichtba-
ren, was Gegenstand des Beobachtens ist. Aber eben
diese sinnliche unmittelbare Gegenwart ist Wirklich-
keit
des Geistes, wie sie nur für die Meynung ist;
und das Beobachten treibt sich nach dieser Seite mit
seinem gemeynten Daseyn, mit der Physiognomie,
Handschrifst, Ton der Stimme u. s. f. herum. -- Es
bezieht solches Daseyn auf eben solches gemeyntes
Innres
. Es ist nicht der Mörder, der Dieb, welcher
erkannt werden soll, sondern die Fähigkeit, es zu
seyn;
die feste abstracte Bestimmtheit verliert sich
dadurch in die concrete unendliche Bestimmtheit des
einzelnen Individuums, die nun kunstreichere Schil-
dereyen erfordert, als jene Qualificationen sind.
Solche kunstreichen Schildereyen sagen wohl mehr
als die Qualification durch Mörder, Diehe, oder gut-
herzig, unverdorben u. s. f., aber für ihren Zweck
das gemeynte Seyn, oder die einzelne Individualität
auszusprechen, bey weitem nicht genug; so wenig
als die Schildereyen der Gestalt, welche über die fla-
che Stirne, lange Nase u. s. f. hinausgehen. Denn
die einzelne Gestalt wie das einzelne Selbstbewusst-
seyn ist als gemeyntes Seyn unaussprechlich. Die
Wissenschafft der Menschenkenntniss, welche auf
den vermeynten Menschen, so wie der Physiogno-

Art, daſs es in seinem Wesen liegt, in Wahrheit
etwas anderes zu seyn, als nur sinnliches unmittel-
bares Seyn. Es ist zwar auch eben dieses im Sinn-
lichen aus ihm in sich Reflectirtseyn, was gegenwär-
tig, die Sichtbarkeit als Sichtbarkeit des Unsichtba-
ren, was Gegenstand des Beobachtens ist. Aber eben
diese sinnliche unmittelbare Gegenwart ist Wirklich-
keit
des Geistes, wie sie nur für die Meynung ist;
und das Beobachten treibt sich nach dieser Seite mit
seinem gemeynten Daseyn, mit der Physiognomie,
Handschrifſt, Ton der Stimme u. s. f. herum. — Es
bezieht solches Daseyn auf eben solches gemeyntes
Innres
. Es ist nicht der Mörder, der Dieb, welcher
erkannt werden soll, sondern die Fähigkeit, es zu
seyn;
die feste abstracte Bestimmtheit verliert sich
dadurch in die concrete unendliche Bestimmtheit des
einzelnen Individuums, die nun kunstreichere Schil-
dereyen erfordert, als jene Qualificationen sind.
Solche kunstreichen Schildereyen sagen wohl mehr
als die Qualification durch Mörder, Diehe, oder gut-
herzig, unverdorben u. s. f., aber für ihren Zweck
das gemeynte Seyn, oder die einzelne Individualität
auszusprechen, bey weitem nicht genug; so wenig
als die Schildereyen der Gestalt, welche über die fla-
che Stirne, lange Nase u. s. f. hinausgehen. Denn
die einzelne Gestalt wie das einzelne Selbstbewuſst-
seyn ist als gemeyntes Seyn unaussprechlich. Die
Wissenschafft der Menschenkenntniſs, welche auf
den vermeynten Menschen, so wie der Physiogno-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0364" n="255"/>
Art, da&#x017F;s es in seinem Wesen liegt, in Wahrheit<lb/>
etwas anderes zu seyn, als nur sinnliches unmittel-<lb/>
bares Seyn. Es ist zwar auch eben dieses im Sinn-<lb/>
lichen aus ihm in sich Reflectirtseyn, was gegenwär-<lb/>
tig, die Sichtbarkeit als Sichtbarkeit des Unsichtba-<lb/>
ren, was Gegenstand des Beobachtens ist. Aber eben<lb/>
diese sinnliche unmittelbare Gegenwart ist <hi rendition="#i">Wirklich-<lb/>
keit</hi> des Geistes, wie sie nur für die Meynung ist;<lb/>
und das Beobachten treibt sich nach dieser Seite mit<lb/>
seinem gemeynten Daseyn, mit der Physiognomie,<lb/>
Handschrif&#x017F;t, Ton der Stimme u. s. f. herum. &#x2014; Es<lb/>
bezieht solches Daseyn auf eben solches <hi rendition="#i">gemeyntes<lb/>
Innres</hi>. Es ist nicht der Mörder, der Dieb, welcher<lb/>
erkannt werden soll, sondern die <hi rendition="#i">Fähigkeit, es zu<lb/>
seyn;</hi> die feste abstracte Bestimmtheit verliert sich<lb/>
dadurch in die concrete unendliche Bestimmtheit des<lb/><hi rendition="#i">einzelnen</hi> Individuums, die nun kunstreichere Schil-<lb/>
dereyen erfordert, als jene Qualificationen sind.<lb/>
Solche kunstreichen Schildereyen sagen wohl mehr<lb/>
als die Qualification durch Mörder, Diehe, oder gut-<lb/>
herzig, unverdorben u. s. f., aber für ihren Zweck<lb/>
das gemeynte Seyn, oder die einzelne Individualität<lb/>
auszusprechen, bey weitem nicht genug; so wenig<lb/>
als die Schildereyen der Gestalt, welche über die fla-<lb/>
che Stirne, lange Nase u. s. f. hinausgehen. Denn<lb/>
die einzelne Gestalt wie das einzelne Selbstbewu&#x017F;st-<lb/>
seyn ist als gemeyntes Seyn unaussprechlich. Die<lb/>
Wissenschafft der Menschenkenntni&#x017F;s, welche auf<lb/>
den vermeynten Menschen, so wie der Physiogno-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[255/0364] Art, daſs es in seinem Wesen liegt, in Wahrheit etwas anderes zu seyn, als nur sinnliches unmittel- bares Seyn. Es ist zwar auch eben dieses im Sinn- lichen aus ihm in sich Reflectirtseyn, was gegenwär- tig, die Sichtbarkeit als Sichtbarkeit des Unsichtba- ren, was Gegenstand des Beobachtens ist. Aber eben diese sinnliche unmittelbare Gegenwart ist Wirklich- keit des Geistes, wie sie nur für die Meynung ist; und das Beobachten treibt sich nach dieser Seite mit seinem gemeynten Daseyn, mit der Physiognomie, Handschrifſt, Ton der Stimme u. s. f. herum. — Es bezieht solches Daseyn auf eben solches gemeyntes Innres. Es ist nicht der Mörder, der Dieb, welcher erkannt werden soll, sondern die Fähigkeit, es zu seyn; die feste abstracte Bestimmtheit verliert sich dadurch in die concrete unendliche Bestimmtheit des einzelnen Individuums, die nun kunstreichere Schil- dereyen erfordert, als jene Qualificationen sind. Solche kunstreichen Schildereyen sagen wohl mehr als die Qualification durch Mörder, Diehe, oder gut- herzig, unverdorben u. s. f., aber für ihren Zweck das gemeynte Seyn, oder die einzelne Individualität auszusprechen, bey weitem nicht genug; so wenig als die Schildereyen der Gestalt, welche über die fla- che Stirne, lange Nase u. s. f. hinausgehen. Denn die einzelne Gestalt wie das einzelne Selbstbewuſst- seyn ist als gemeyntes Seyn unaussprechlich. Die Wissenschafft der Menschenkenntniſs, welche auf den vermeynten Menschen, so wie der Physiogno-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_phaenomenologie_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_phaenomenologie_1807/364
Zitationshilfe: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Wissenschaft. Erster Theil: Die Phänomenologie des Geistes. Bamberg u. a., 1807, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_phaenomenologie_1807/364>, abgerufen am 22.11.2024.