Es verachtet Verstand und Wissenschaft des Menschen allerhöchste Gaben -- es hat dem Teufel sich ergeben und muss zu Grunde gehn.
Es stürzt also ins Leben, und bringt die reine Individualität, in welcher es auftritt, zur Ausfüh- rung. Es macht sich weniger sein Glück, als dass es dasselbige unmittelbar nimmt und geniesst. Die Schatten von Wissenschaft, Gesetzen und Grund- sätzen, die allein zwischen ihm und seiner eignen Wirklichkeit stehen, verschwinden, als ein leblo- ser Nebel, der es nicht mit der Gewissheit seiner Realität aufnehmen kann; es nimmt sich das Le- ben, wie eine reife Frucht gepflückt wird, welche ebensosehr selbst entgegen kommt, als sie genom- men wird.
Sein Thun ist nur nach einem Momente ein Thun der Begierde; es geht nicht auf die Vertil- gung des ganzen gegenständlichen Wesens, sondern nur auf die Form seines Andersseyns oder seiner Selbstständigkeit, die ein wesenloser Schein ist; denn an sich gilt es ihm für dasselbe Wesen, oder als seine Selbstheit. Das Element, worinn die Be- gierde und ihr Gegenstand gleichgültig gegeneinan- der und selbstständig bestehen, ist das lebendige Daseyn; der Genuss der Begierde hebt diss, inso- fern es ihrem Gegenstande zukommt, auf. Aber hier ist diss Element, welches beyden die abgeson- derte Wirklichkeit gibt, vielmehr die Kategorie,
Es verachtet Verstand und Wissenschaft des Menschen allerhöchste Gaben — es hat dem Teufel sich ergeben und muſs zu Grunde gehn.
Es stürzt also ins Leben, und bringt die reine Individualität, in welcher es auftritt, zur Ausfüh- rung. Es macht sich weniger sein Glück, als daſs es dasselbige unmittelbar nimmt und genieſst. Die Schatten von Wissenschaft, Gesetzen und Grund- sätzen, die allein zwischen ihm und seiner eignen Wirklichkeit stehen, verschwinden, als ein leblo- ser Nebel, der es nicht mit der Gewiſsheit seiner Realität aufnehmen kann; es nimmt sich das Le- ben, wie eine reife Frucht gepflückt wird, welche ebensosehr selbst entgegen kommt, als sie genom- men wird.
Sein Thun ist nur nach einem Momente ein Thun der Begierde; es geht nicht auf die Vertil- gung des ganzen gegenständlichen Wesens, sondern nur auf die Form seines Andersseyns oder seiner Selbstständigkeit, die ein wesenloser Schein ist; denn an sich gilt es ihm für dasselbe Wesen, oder als seine Selbstheit. Das Element, worinn die Be- gierde und ihr Gegenstand gleichgültig gegeneinan- der und selbstständig bestehen, ist das lebendige Daseyn; der Genuſs der Begierde hebt diſs, inso- fern es ihrem Gegenstande zukommt, auf. Aber hier ist diſs Element, welches beyden die abgeson- derte Wirklichkeit gibt, vielmehr die Kategorie,
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Es verachtet Verstand und Wissenschaft
des Menschen allerhöchste Gaben —
es hat dem Teufel sich ergeben
und muſs zu Grunde gehn.
Es stürzt also ins Leben, und bringt die reine
Individualität, in welcher es auftritt, zur Ausfüh-
rung. Es macht sich weniger sein Glück, als daſs
es dasselbige unmittelbar nimmt und genieſst. Die
Schatten von Wissenschaft, Gesetzen und Grund-
sätzen, die allein zwischen ihm und seiner eignen
Wirklichkeit stehen, verschwinden, als ein leblo-
ser Nebel, der es nicht mit der Gewiſsheit seiner
Realität aufnehmen kann; es nimmt sich das Le-
ben, wie eine reife Frucht gepflückt wird, welche
ebensosehr selbst entgegen kommt, als sie genom-
men wird.
Sein Thun ist nur nach einem Momente ein
Thun der Begierde; es geht nicht auf die Vertil-
gung des ganzen gegenständlichen Wesens, sondern
nur auf die Form seines Andersseyns oder seiner
Selbstständigkeit, die ein wesenloser Schein ist;
denn an sich gilt es ihm für dasselbe Wesen, oder
als seine Selbstheit. Das Element, worinn die Be-
gierde und ihr Gegenstand gleichgültig gegeneinan-
der und selbstständig bestehen, ist das lebendige
Daseyn; der Genuſs der Begierde hebt diſs, inso-
fern es ihrem Gegenstande zukommt, auf. Aber
hier ist diſs Element, welches beyden die abgeson-
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Wissenschaft. Erster Theil: Die Phänomenologie des Geistes. Bamberg u. a., 1807, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_phaenomenologie_1807/408>, abgerufen am 22.11.2024.
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