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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826.

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in ihrem Laufe findet, so daß das Wasser hier wild
empor zischt oder schäumend überläuft, dort aus
allerley Steinspalten, wie aus tollen Gießkannen,
in reinen Bögen sich ergießt, und unten wieder
über die kleinen Steine hintrippelt, wie ein mun¬
teres Mädchen. Ja, die Sage ist wahr, die Ilse
ist eine Prinzessin, die lachend und blühend den
Berg hinab läuft. Wie blinkt im Sonnenschein
ihr weißes Schaumgewand! Wie flattern im
Winde ihre silbernen Busenbänder! Wie funkeln
und blitzen ihre Diamanten! Die hohen Buchen
stehen gleich ernsten Vätern, die verstohlen lächelnd
dem Muthwillen des lieblichen Kindes zusehen; die
weißen Birken bewegen sich tantenhaft vergnügt,
und doch zugleich ängstlich über die gewagten
Sprünge; der stolze Eichbaum schaut drein wie ein
verdrießlicher Oheim, der das schöne Wetter bezah¬
len muß; die Vögelein in den Lüften jubeln ihren
Beyfall, die Blumen am Ufer flüstern zärtlich: O,
nimm uns mit, nimm uns mit, lieb Schwester¬
chen! -- aber das lustige Mädchen springt unauf¬

in ihrem Laufe findet, ſo daß das Waſſer hier wild
empor ziſcht oder ſchaͤumend uͤberlaͤuft, dort aus
allerley Steinſpalten, wie aus tollen Gießkannen,
in reinen Boͤgen ſich ergießt, und unten wieder
uͤber die kleinen Steine hintrippelt, wie ein mun¬
teres Maͤdchen. Ja, die Sage iſt wahr, die Ilſe
iſt eine Prinzeſſin, die lachend und bluͤhend den
Berg hinab laͤuft. Wie blinkt im Sonnenſchein
ihr weißes Schaumgewand! Wie flattern im
Winde ihre ſilbernen Buſenbaͤnder! Wie funkeln
und blitzen ihre Diamanten! Die hohen Buchen
ſtehen gleich ernſten Vaͤtern, die verſtohlen laͤchelnd
dem Muthwillen des lieblichen Kindes zuſehen; die
weißen Birken bewegen ſich tantenhaft vergnuͤgt,
und doch zugleich aͤngſtlich uͤber die gewagten
Spruͤnge; der ſtolze Eichbaum ſchaut drein wie ein
verdrießlicher Oheim, der das ſchoͤne Wetter bezah¬
len muß; die Voͤgelein in den Luͤften jubeln ihren
Beyfall, die Blumen am Ufer fluͤſtern zaͤrtlich: O,
nimm uns mit, nimm uns mit, lieb Schweſter¬
chen! — aber das luſtige Maͤdchen ſpringt unauf¬

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[243/0255] in ihrem Laufe findet, ſo daß das Waſſer hier wild empor ziſcht oder ſchaͤumend uͤberlaͤuft, dort aus allerley Steinſpalten, wie aus tollen Gießkannen, in reinen Boͤgen ſich ergießt, und unten wieder uͤber die kleinen Steine hintrippelt, wie ein mun¬ teres Maͤdchen. Ja, die Sage iſt wahr, die Ilſe iſt eine Prinzeſſin, die lachend und bluͤhend den Berg hinab laͤuft. Wie blinkt im Sonnenſchein ihr weißes Schaumgewand! Wie flattern im Winde ihre ſilbernen Buſenbaͤnder! Wie funkeln und blitzen ihre Diamanten! Die hohen Buchen ſtehen gleich ernſten Vaͤtern, die verſtohlen laͤchelnd dem Muthwillen des lieblichen Kindes zuſehen; die weißen Birken bewegen ſich tantenhaft vergnuͤgt, und doch zugleich aͤngſtlich uͤber die gewagten Spruͤnge; der ſtolze Eichbaum ſchaut drein wie ein verdrießlicher Oheim, der das ſchoͤne Wetter bezah¬ len muß; die Voͤgelein in den Luͤften jubeln ihren Beyfall, die Blumen am Ufer fluͤſtern zaͤrtlich: O, nimm uns mit, nimm uns mit, lieb Schweſter¬ chen! — aber das luſtige Maͤdchen ſpringt unauf¬

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/255>, abgerufen am 22.11.2024.