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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827.

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mein Vorurtheil aussprach. "Vorurtheil" ist
hier der umfassendste Ausdruck. Nur eins läßt
sich mit Bestimmtheit sagen: das Buch wird ge¬
lesen werden vom Aufgang bis zum Niedergang,
und wir Deutschen werden es übersetzen.

Wir haben auch den Segür übersetzt. Nicht
wahr, es ist ein hübsches episches Gedicht?
Wir Deutschen schreiben auch epische Gedichte,
aber die Helden derselben existiren bloß in unse¬
rem Kopfe. Hingegen die Helden des französi¬
schen Epos sind wirkliche Helden, die viel größere
Thaten vollbracht, und viel größere Leiden ge¬
litten, als wir in unseren Dachstübchen ersinnen
können. Und wir haben doch viel Phantasie,
und die Franzosen haben nur wenig. Vielleicht
hat deshalb der liebe Gott den Franzosen auf
eine andere Art nachgeholfen, und sie brauchen
nur treu zu erzählen, was sie in den letzten
dreyzig Jahren gesehen und gethan, und sie haben
eine erlebte Literatur, wie noch kein Volk und
keine Zeit sie hervorgebracht. Diese Memoiren

mein Vorurtheil ausſprach. “Vorurtheil” iſt
hier der umfaſſendſte Ausdruck. Nur eins laͤßt
ſich mit Beſtimmtheit ſagen: das Buch wird ge¬
leſen werden vom Aufgang bis zum Niedergang,
und wir Deutſchen werden es uͤberſetzen.

Wir haben auch den Seguͤr uͤberſetzt. Nicht
wahr, es iſt ein huͤbſches epiſches Gedicht?
Wir Deutſchen ſchreiben auch epiſche Gedichte,
aber die Helden derſelben exiſtiren bloß in unſe¬
rem Kopfe. Hingegen die Helden des franzoͤſi¬
ſchen Epos ſind wirkliche Helden, die viel groͤßere
Thaten vollbracht, und viel groͤßere Leiden ge¬
litten, als wir in unſeren Dachſtuͤbchen erſinnen
koͤnnen. Und wir haben doch viel Phantaſie,
und die Franzoſen haben nur wenig. Vielleicht
hat deshalb der liebe Gott den Franzoſen auf
eine andere Art nachgeholfen, und ſie brauchen
nur treu zu erzaͤhlen, was ſie in den letzten
dreyzig Jahren geſehen und gethan, und ſie haben
eine erlebte Literatur, wie noch kein Volk und
keine Zeit ſie hervorgebracht. Dieſe Memoiren

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[105/0113] mein Vorurtheil ausſprach. “Vorurtheil” iſt hier der umfaſſendſte Ausdruck. Nur eins laͤßt ſich mit Beſtimmtheit ſagen: das Buch wird ge¬ leſen werden vom Aufgang bis zum Niedergang, und wir Deutſchen werden es uͤberſetzen. Wir haben auch den Seguͤr uͤberſetzt. Nicht wahr, es iſt ein huͤbſches epiſches Gedicht? Wir Deutſchen ſchreiben auch epiſche Gedichte, aber die Helden derſelben exiſtiren bloß in unſe¬ rem Kopfe. Hingegen die Helden des franzoͤſi¬ ſchen Epos ſind wirkliche Helden, die viel groͤßere Thaten vollbracht, und viel groͤßere Leiden ge¬ litten, als wir in unſeren Dachſtuͤbchen erſinnen koͤnnen. Und wir haben doch viel Phantaſie, und die Franzoſen haben nur wenig. Vielleicht hat deshalb der liebe Gott den Franzoſen auf eine andere Art nachgeholfen, und ſie brauchen nur treu zu erzaͤhlen, was ſie in den letzten dreyzig Jahren geſehen und gethan, und ſie haben eine erlebte Literatur, wie noch kein Volk und keine Zeit ſie hervorgebracht. Dieſe Memoiren

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/113>, abgerufen am 24.11.2024.