können. Denn Wir leben im Grunde geistig einsam, durch eine besondere Erziehungsmethode oder zufälliggewählte, besondere Lektüre hat jeder von uns eine verschiedene Charakterrich¬ tung empfangen, jeder von uns, geistig ver¬ larvt, denkt, fühlt und strebt anders als die Andern, und des Mißverständnisses wird so viel, und selbst in weiten Häusern wird das Zusam¬ menleben so schwer, und wir sind überall be¬ engt, überall fremd, und überall in der Fremde.
In jenem Zustande der Gedanken- und Ge¬ fühlsgleichheit, wie wir ihn bey unseren Insula¬ nern sehen, lebten oft ganze Völker und haben oft ganze Zeitalter gelebt. Die römisch christliche Kirche im Mittelalter hat vielleicht einen solchen Zustand in den Corporazionen des ganzen Eu¬ ropa begründen wollen, und nahm deßhalb alle Lebensbeziehungen, alle Kräfte und Erscheinun¬ gen, den ganzen physischen und moralischen Menschen unter ihre Vormundschaft. Es läßt sich nicht läugnen, daß viel ruhiges Glück da¬
koͤnnen. Denn Wir leben im Grunde geiſtig einſam, durch eine beſondere Erziehungsmethode oder zufaͤlliggewaͤhlte, beſondere Lektuͤre hat jeder von uns eine verſchiedene Charakterrich¬ tung empfangen, jeder von uns, geiſtig ver¬ larvt, denkt, fuͤhlt und ſtrebt anders als die Andern, und des Mißverſtaͤndniſſes wird ſo viel, und ſelbſt in weiten Haͤuſern wird das Zuſam¬ menleben ſo ſchwer, und wir ſind uͤberall be¬ engt, uͤberall fremd, und uͤberall in der Fremde.
In jenem Zuſtande der Gedanken- und Ge¬ fuͤhlsgleichheit, wie wir ihn bey unſeren Inſula¬ nern ſehen, lebten oft ganze Voͤlker und haben oft ganze Zeitalter gelebt. Die roͤmiſch chriſtliche Kirche im Mittelalter hat vielleicht einen ſolchen Zuſtand in den Corporazionen des ganzen Eu¬ ropa begruͤnden wollen, und nahm deßhalb alle Lebensbeziehungen, alle Kraͤfte und Erſcheinun¬ gen, den ganzen phyſiſchen und moraliſchen Menſchen unter ihre Vormundſchaft. Es laͤßt ſich nicht laͤugnen, daß viel ruhiges Gluͤck da¬
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koͤnnen. Denn Wir leben im Grunde geiſtig
einſam, durch eine beſondere Erziehungsmethode
oder zufaͤlliggewaͤhlte, beſondere Lektuͤre hat
jeder von uns eine verſchiedene Charakterrich¬
tung empfangen, jeder von uns, geiſtig ver¬
larvt, denkt, fuͤhlt und ſtrebt anders als die
Andern, und des Mißverſtaͤndniſſes wird ſo viel,
und ſelbſt in weiten Haͤuſern wird das Zuſam¬
menleben ſo ſchwer, und wir ſind uͤberall be¬
engt, uͤberall fremd, und uͤberall in der Fremde.
In jenem Zuſtande der Gedanken- und Ge¬
fuͤhlsgleichheit, wie wir ihn bey unſeren Inſula¬
nern ſehen, lebten oft ganze Voͤlker und haben
oft ganze Zeitalter gelebt. Die roͤmiſch chriſtliche
Kirche im Mittelalter hat vielleicht einen ſolchen
Zuſtand in den Corporazionen des ganzen Eu¬
ropa begruͤnden wollen, und nahm deßhalb alle
Lebensbeziehungen, alle Kraͤfte und Erſcheinun¬
gen, den ganzen phyſiſchen und moraliſchen
Menſchen unter ihre Vormundſchaft. Es laͤßt
ſich nicht laͤugnen, daß viel ruhiges Gluͤck da¬
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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/54>, abgerufen am 24.11.2024.
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