Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827.

Bild:
<< vorherige Seite

durch gegründet ward und das Leben warm-in¬
niger blühte, und die Künste, wie still hervorge¬
wachsene Blumen, jene Herrlichkeit entfalteten,
die wir noch jetzt anstaunen, und mit all un¬
serem hastigen Wissen nicht nachahmen können.
Aber der Geist hat seine ewigen Rechte, er läßt
sich nicht eindämmen durch Satzungen und nicht
einlullen durch Glockengeläute; er zerbrach seinen
Kerker und zerriß das eiserne Gängelband, woran
ihn die Mutterkirche leitete, und er jagte im
Befreyungstaumel über die ganze Erde, erstieg
die höchsten Gipfel der Berge, jauchzte vor Ue¬
bermuth, gedachte wieder uralter Zweifel, grü¬
belte über die Wunder des Tages, und zählte
die Sterne der Nacht. Wir kennen noch nicht
die Zahl der Sterne, die Wunder des Tages
haben wir noch nicht enträthselt, die alten Zwei¬
fel sind mächtig geworden in unserer Seele --
ist jetzt mehr Glück darin als ehemals? Wir
wissen, daß diese Frage, wenn sie den großen Hau¬
fen betrifft, nicht leicht bejaht werden kann; aber

durch gegruͤndet ward und das Leben warm-in¬
niger bluͤhte, und die Kuͤnſte, wie ſtill hervorge¬
wachſene Blumen, jene Herrlichkeit entfalteten,
die wir noch jetzt anſtaunen, und mit all un¬
ſerem haſtigen Wiſſen nicht nachahmen koͤnnen.
Aber der Geiſt hat ſeine ewigen Rechte, er laͤßt
ſich nicht eindaͤmmen durch Satzungen und nicht
einlullen durch Glockengelaͤute; er zerbrach ſeinen
Kerker und zerriß das eiſerne Gaͤngelband, woran
ihn die Mutterkirche leitete, und er jagte im
Befreyungstaumel uͤber die ganze Erde, erſtieg
die hoͤchſten Gipfel der Berge, jauchzte vor Ue¬
bermuth, gedachte wieder uralter Zweifel, gruͤ¬
belte uͤber die Wunder des Tages, und zaͤhlte
die Sterne der Nacht. Wir kennen noch nicht
die Zahl der Sterne, die Wunder des Tages
haben wir noch nicht entraͤthſelt, die alten Zwei¬
fel ſind maͤchtig geworden in unſerer Seele —
iſt jetzt mehr Gluͤck darin als ehemals? Wir
wiſſen, daß dieſe Frage, wenn ſie den großen Hau¬
fen betrifft, nicht leicht bejaht werden kann; aber

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0055" n="47"/>
durch gegru&#x0364;ndet ward und das Leben warm-in¬<lb/>
niger blu&#x0364;hte, und die Ku&#x0364;n&#x017F;te, wie &#x017F;till hervorge¬<lb/>
wach&#x017F;ene Blumen, jene Herrlichkeit entfalteten,<lb/>
die wir noch jetzt an&#x017F;taunen, und mit all un¬<lb/>
&#x017F;erem ha&#x017F;tigen Wi&#x017F;&#x017F;en nicht nachahmen ko&#x0364;nnen.<lb/>
Aber der Gei&#x017F;t hat &#x017F;eine ewigen Rechte, er la&#x0364;ßt<lb/>
&#x017F;ich nicht einda&#x0364;mmen durch Satzungen und nicht<lb/>
einlullen durch Glockengela&#x0364;ute; er zerbrach &#x017F;einen<lb/>
Kerker und zerriß das ei&#x017F;erne Ga&#x0364;ngelband, woran<lb/>
ihn die Mutterkirche leitete, und er jagte im<lb/>
Befreyungstaumel u&#x0364;ber die ganze Erde, er&#x017F;tieg<lb/>
die ho&#x0364;ch&#x017F;ten Gipfel der Berge, jauchzte vor Ue¬<lb/>
bermuth, gedachte wieder uralter Zweifel, gru&#x0364;¬<lb/>
belte u&#x0364;ber die Wunder des Tages, und za&#x0364;hlte<lb/>
die Sterne der Nacht. Wir kennen noch nicht<lb/>
die Zahl der Sterne, die Wunder des Tages<lb/>
haben wir noch nicht entra&#x0364;th&#x017F;elt, die alten Zwei¬<lb/>
fel &#x017F;ind ma&#x0364;chtig geworden in un&#x017F;erer Seele &#x2014;<lb/>
i&#x017F;t jetzt mehr Glu&#x0364;ck darin als ehemals? Wir<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en, daß die&#x017F;e Frage, wenn &#x017F;ie den großen Hau¬<lb/>
fen betrifft, nicht leicht bejaht werden kann; aber<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[47/0055] durch gegruͤndet ward und das Leben warm-in¬ niger bluͤhte, und die Kuͤnſte, wie ſtill hervorge¬ wachſene Blumen, jene Herrlichkeit entfalteten, die wir noch jetzt anſtaunen, und mit all un¬ ſerem haſtigen Wiſſen nicht nachahmen koͤnnen. Aber der Geiſt hat ſeine ewigen Rechte, er laͤßt ſich nicht eindaͤmmen durch Satzungen und nicht einlullen durch Glockengelaͤute; er zerbrach ſeinen Kerker und zerriß das eiſerne Gaͤngelband, woran ihn die Mutterkirche leitete, und er jagte im Befreyungstaumel uͤber die ganze Erde, erſtieg die hoͤchſten Gipfel der Berge, jauchzte vor Ue¬ bermuth, gedachte wieder uralter Zweifel, gruͤ¬ belte uͤber die Wunder des Tages, und zaͤhlte die Sterne der Nacht. Wir kennen noch nicht die Zahl der Sterne, die Wunder des Tages haben wir noch nicht entraͤthſelt, die alten Zwei¬ fel ſind maͤchtig geworden in unſerer Seele — iſt jetzt mehr Gluͤck darin als ehemals? Wir wiſſen, daß dieſe Frage, wenn ſie den großen Hau¬ fen betrifft, nicht leicht bejaht werden kann; aber

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/55
Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/55>, abgerufen am 21.11.2024.