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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 3. Hamburg, 1830.

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Erinnerung betrachtet. So sehen wir oft alte
Leute an einer Straßenecke, in katholischen Städ¬
ten, vor einem Madonnenbilde knieen, das so
verblaßt und verwittert ist, daß nur noch wenige
Spuren und Gesichtsumrisse davon übrig geblie¬
ben sind, ja, daß man dort vielleicht nichts mehr
sieht als die Nische, worin es gemalt stand, und
die Lampe, die etwa noch darüber hängt; aber
die alten Leute, die, mit dem Rosenkranz in den
zitternden Händen, dort so andächtig knieen, haben
schon seit ihren Jugendjahren dort gekniet, Ge¬
wohnheit treibt sie immer, um dieselbe Stunde,
zu demselben Fleck, sie merkten nicht das Er¬
löschen des geliebten Heiligenbildes, und am Ende
macht das Alter ja doch so schwachsichtig und
blind, daß es ganz gleichgültig seyn mag, ob der
Gegenstand unserer Anbetung überhaupt noch
sichtbar ist oder nicht. Die da glauben ohne zu
sehen sind auf jeden Fall glücklicher als die
Scharfäugigen, die jede hervorblühende Runzel

Erinnerung betrachtet. So ſehen wir oft alte
Leute an einer Straßenecke, in katholiſchen Staͤd¬
ten, vor einem Madonnenbilde knieen, das ſo
verblaßt und verwittert iſt, daß nur noch wenige
Spuren und Geſichtsumriſſe davon uͤbrig geblie¬
ben ſind, ja, daß man dort vielleicht nichts mehr
ſieht als die Niſche, worin es gemalt ſtand, und
die Lampe, die etwa noch daruͤber haͤngt; aber
die alten Leute, die, mit dem Roſenkranz in den
zitternden Haͤnden, dort ſo andaͤchtig knieen, haben
ſchon ſeit ihren Jugendjahren dort gekniet, Ge¬
wohnheit treibt ſie immer, um dieſelbe Stunde,
zu demſelben Fleck, ſie merkten nicht das Er¬
loͤſchen des geliebten Heiligenbildes, und am Ende
macht das Alter ja doch ſo ſchwachſichtig und
blind, daß es ganz gleichguͤltig ſeyn mag, ob der
Gegenſtand unſerer Anbetung uͤberhaupt noch
ſichtbar iſt oder nicht. Die da glauben ohne zu
ſehen ſind auf jeden Fall gluͤcklicher als die
Scharfaͤugigen, die jede hervorbluͤhende Runzel

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[261/0269] Erinnerung betrachtet. So ſehen wir oft alte Leute an einer Straßenecke, in katholiſchen Staͤd¬ ten, vor einem Madonnenbilde knieen, das ſo verblaßt und verwittert iſt, daß nur noch wenige Spuren und Geſichtsumriſſe davon uͤbrig geblie¬ ben ſind, ja, daß man dort vielleicht nichts mehr ſieht als die Niſche, worin es gemalt ſtand, und die Lampe, die etwa noch daruͤber haͤngt; aber die alten Leute, die, mit dem Roſenkranz in den zitternden Haͤnden, dort ſo andaͤchtig knieen, haben ſchon ſeit ihren Jugendjahren dort gekniet, Ge¬ wohnheit treibt ſie immer, um dieſelbe Stunde, zu demſelben Fleck, ſie merkten nicht das Er¬ loͤſchen des geliebten Heiligenbildes, und am Ende macht das Alter ja doch ſo ſchwachſichtig und blind, daß es ganz gleichguͤltig ſeyn mag, ob der Gegenſtand unſerer Anbetung uͤberhaupt noch ſichtbar iſt oder nicht. Die da glauben ohne zu ſehen ſind auf jeden Fall gluͤcklicher als die Scharfaͤugigen, die jede hervorbluͤhende Runzel

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 3. Hamburg, 1830, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder03_1830/269>, abgerufen am 22.11.2024.