Endlich kam der Tag, wo alles ganz anders wurde. Die Sonne brach hervor aus dem Himmel und tränkte die Erde, das alte Kind, mit ihrer Strahlenmilch, die Berge schauerten vor Lust und ihre Schneethränen flossen gewal¬ tig, es krachten und brachen die Eisdecken der Seen, die Erde schlug die blauen Augen auf, aus ihrem Busen quollen hervor die liebenden Blumen und die klingenden Wälder, die grünen Palläste der Nachtigallen, die ganze Natur lächelte, und dieses Lächeln hieß Frühling. Da begann auch in mir ein neuer Frühling, neue Blumen sproßten aus dem Herzen, Freiheitsgefühle, wie Rosen, schossen hervor, auch heimliches Sehnen, wie junge Veilchen, dazwischen freilich manch' unnütze Nessel. Ueber die Gräber meiner Wünsche zog die Hoffnung wieder ihr heiteres Grün, auch die Melodieen der Poesie kamen wieder, wie Zug¬ vögel, die den Winter im warmen Süden ver¬ bracht und das verlassene Nest im Norden wieder
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Endlich kam der Tag, wo alles ganz anders wurde. Die Sonne brach hervor aus dem Himmel und traͤnkte die Erde, das alte Kind, mit ihrer Strahlenmilch, die Berge ſchauerten vor Luſt und ihre Schneethraͤnen floſſen gewal¬ tig, es krachten und brachen die Eisdecken der Seen, die Erde ſchlug die blauen Augen auf, aus ihrem Buſen quollen hervor die liebenden Blumen und die klingenden Waͤlder, die gruͤnen Pallaͤſte der Nachtigallen, die ganze Natur laͤchelte, und dieſes Laͤcheln hieß Fruͤhling. Da begann auch in mir ein neuer Fruͤhling, neue Blumen ſproßten aus dem Herzen, Freiheitsgefuͤhle, wie Roſen, ſchoſſen hervor, auch heimliches Sehnen, wie junge Veilchen, dazwiſchen freilich manch' unnuͤtze Neſſel. Ueber die Graͤber meiner Wuͤnſche zog die Hoffnung wieder ihr heiteres Gruͤn, auch die Melodieen der Poeſie kamen wieder, wie Zug¬ voͤgel, die den Winter im warmen Suͤden ver¬ bracht und das verlaſſene Neſt im Norden wieder
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Endlich kam der Tag, wo alles ganz anders
wurde. Die Sonne brach hervor aus dem
Himmel und traͤnkte die Erde, das alte Kind,
mit ihrer Strahlenmilch, die Berge ſchauerten
vor Luſt und ihre Schneethraͤnen floſſen gewal¬
tig, es krachten und brachen die Eisdecken der
Seen, die Erde ſchlug die blauen Augen auf,
aus ihrem Buſen quollen hervor die liebenden
Blumen und die klingenden Waͤlder, die gruͤnen
Pallaͤſte der Nachtigallen, die ganze Natur laͤchelte,
und dieſes Laͤcheln hieß Fruͤhling. Da begann
auch in mir ein neuer Fruͤhling, neue Blumen
ſproßten aus dem Herzen, Freiheitsgefuͤhle, wie
Roſen, ſchoſſen hervor, auch heimliches Sehnen,
wie junge Veilchen, dazwiſchen freilich manch'
unnuͤtze Neſſel. Ueber die Graͤber meiner Wuͤnſche
zog die Hoffnung wieder ihr heiteres Gruͤn, auch
die Melodieen der Poeſie kamen wieder, wie Zug¬
voͤgel, die den Winter im warmen Suͤden ver¬
bracht und das verlaſſene Neſt im Norden wieder
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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 3. Hamburg, 1830, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder03_1830/43>, abgerufen am 21.11.2024.
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