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Heine, Heinrich: Reisebilder. Nachträge. Hamburg, 1831.

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und zwar in der besten Beleuchtung. Und was
sah ich denn? Nun ja, der klerikale Stempel
fehlte nirgends. Aber dieses abgerechnet, waren
die Gesichter unter einander eben so verschieden,
wie andre Gesichter. Das eine war blaß, das
andre roth, diese Nase erhob sich stolz, jene war
niedergeschlagen, hier ein funkelnd schwarzes dort
ein schimmernd graues Auge -- aber in allen die¬
sen Gesichtern lagen die Spuren derselben Krank¬
heit, einer schrecklichen, unheilbaren Krankheit, die
wahrscheinlich Ursache seyn wird, daß mein Enkel,
wenn er hundert Jahr später die Prozession in
Lukka zu sehen bekommt, kein einziges von jenen
Gesichtern wieder findet. Ich fürchte, ich bin
selbst angesteckt von dieser Krankheit, und eine
Folge derselben ist jene Weichheit, die mich wun¬
derbar beschleicht, wenn ich so ein sieches Mönchs¬
gesicht betrachte, und darauf die Symptome jener
Leiden sehe, die sich unter der groben Kutte ver¬
stecken: -- gekränkte Liebe, Podagra, getäuschter

und zwar in der beſten Beleuchtung. Und was
ſah ich denn? Nun ja, der klerikale Stempel
fehlte nirgends. Aber dieſes abgerechnet, waren
die Geſichter unter einander eben ſo verſchieden,
wie andre Geſichter. Das eine war blaß, das
andre roth, dieſe Naſe erhob ſich ſtolz, jene war
niedergeſchlagen, hier ein funkelnd ſchwarzes dort
ein ſchimmernd graues Auge — aber in allen die¬
ſen Geſichtern lagen die Spuren derſelben Krank¬
heit, einer ſchrecklichen, unheilbaren Krankheit, die
wahrſcheinlich Urſache ſeyn wird, daß mein Enkel,
wenn er hundert Jahr ſpaͤter die Prozeſſion in
Lukka zu ſehen bekommt, kein einziges von jenen
Geſichtern wieder findet. Ich fuͤrchte, ich bin
ſelbſt angeſteckt von dieſer Krankheit, und eine
Folge derſelben iſt jene Weichheit, die mich wun¬
derbar beſchleicht, wenn ich ſo ein ſieches Moͤnchs¬
geſicht betrachte, und darauf die Symptome jener
Leiden ſehe, die ſich unter der groben Kutte ver¬
ſtecken: — gekraͤnkte Liebe, Podagra, getaͤuſchter

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[38/0052] und zwar in der beſten Beleuchtung. Und was ſah ich denn? Nun ja, der klerikale Stempel fehlte nirgends. Aber dieſes abgerechnet, waren die Geſichter unter einander eben ſo verſchieden, wie andre Geſichter. Das eine war blaß, das andre roth, dieſe Naſe erhob ſich ſtolz, jene war niedergeſchlagen, hier ein funkelnd ſchwarzes dort ein ſchimmernd graues Auge — aber in allen die¬ ſen Geſichtern lagen die Spuren derſelben Krank¬ heit, einer ſchrecklichen, unheilbaren Krankheit, die wahrſcheinlich Urſache ſeyn wird, daß mein Enkel, wenn er hundert Jahr ſpaͤter die Prozeſſion in Lukka zu ſehen bekommt, kein einziges von jenen Geſichtern wieder findet. Ich fuͤrchte, ich bin ſelbſt angeſteckt von dieſer Krankheit, und eine Folge derſelben iſt jene Weichheit, die mich wun¬ derbar beſchleicht, wenn ich ſo ein ſieches Moͤnchs¬ geſicht betrachte, und darauf die Symptome jener Leiden ſehe, die ſich unter der groben Kutte ver¬ ſtecken: — gekraͤnkte Liebe, Podagra, getaͤuſchter

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Nachträge. Hamburg, 1831, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder04_1831/52>, abgerufen am 21.11.2024.