Den Mantel hatte ich schon vorher abgewor- fen, und die Schuh ausgezogen; ich ging auf den Zehen und hielt mich mit den Händen im Gleich- gewicht. Sie lag vom Schlaf aufgelöst mit dem Kopf über den rechten Arm, und den linken sanft ausgestreckt, mit den Knien jungfräulich ein wenig zusammengezogen, die Decke von sich ge- worfen, und nur den Unterleib mit dem seinenen Tuche verhüllt; es war eben eine laue Nacht.
Ich hesah alsdenn ihr Zimmer. Vor einer Madonna mit dem Kinde, nach der reizenden von Raphael auf dem Stubl von einem seiner besten Schüler kopirt, brannt eine Lampe; und eben so brannt eine andre vor einer Magdalena, gewiß von dem Wundermanne der Lombardey Antonio Allegri: solch eine unbeschreibliche An- muht war in den Umrissen ihres Gesichts, so lieblich die Farbe, und unübertreflich das blende Haar gemahlt, über die jungen Brüste reizend wie von einem Lüftchen verweht. Vor beyden
standen
Den Mantel hatte ich ſchon vorher abgewor- fen, und die Schuh ausgezogen; ich ging auf den Zehen und hielt mich mit den Haͤnden im Gleich- gewicht. Sie lag vom Schlaf aufgeloͤſt mit dem Kopf uͤber den rechten Arm, und den linken ſanft ausgeſtreckt, mit den Knien jungfraͤulich ein wenig zuſammengezogen, die Decke von ſich ge- worfen, und nur den Unterleib mit dem ſeinenen Tuche verhuͤllt; es war eben eine laue Nacht.
Ich heſah alsdenn ihr Zimmer. Vor einer Madonna mit dem Kinde, nach der reizenden von Raphael auf dem Stubl von einem ſeiner beſten Schuͤler kopirt, brannt eine Lampe; und eben ſo brannt eine andre vor einer Magdalena, gewiß von dem Wundermanne der Lombardey Antonio Allegri: ſolch eine unbeſchreibliche An- muht war in den Umriſſen ihres Geſichts, ſo lieblich die Farbe, und unuͤbertreflich das blende Haar gemahlt, uͤber die jungen Bruͤſte reizend wie von einem Luͤftchen verweht. Vor beyden
ſtanden
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0228"n="222"/><p>Den Mantel hatte ich ſchon vorher abgewor-<lb/>
fen, und die Schuh ausgezogen; ich ging auf den<lb/>
Zehen und hielt mich mit den Haͤnden im Gleich-<lb/>
gewicht. Sie lag vom Schlaf aufgeloͤſt mit dem<lb/>
Kopf uͤber den rechten Arm, und den linken<lb/>ſanft ausgeſtreckt, mit den Knien jungfraͤulich<lb/>
ein wenig zuſammengezogen, die Decke von ſich ge-<lb/>
worfen, und nur den Unterleib mit dem ſeinenen<lb/>
Tuche verhuͤllt; es war eben eine laue Nacht.</p><lb/><p>Ich heſah alsdenn ihr Zimmer. Vor einer<lb/>
Madonna mit dem Kinde, nach der reizenden<lb/>
von Raphael <hirendition="#fr">auf dem Stubl</hi> von einem ſeiner<lb/>
beſten Schuͤler kopirt, brannt eine Lampe; und<lb/>
eben ſo brannt eine andre vor einer Magdalena,<lb/>
gewiß von dem Wundermanne der Lombardey<lb/>
Antonio Allegri: ſolch eine unbeſchreibliche An-<lb/>
muht war in den Umriſſen ihres Geſichts, ſo<lb/>
lieblich die Farbe, und unuͤbertreflich das blende<lb/>
Haar gemahlt, uͤber die jungen Bruͤſte reizend<lb/>
wie von einem Luͤftchen verweht. Vor beyden<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſtanden</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[222/0228]
Den Mantel hatte ich ſchon vorher abgewor-
fen, und die Schuh ausgezogen; ich ging auf den
Zehen und hielt mich mit den Haͤnden im Gleich-
gewicht. Sie lag vom Schlaf aufgeloͤſt mit dem
Kopf uͤber den rechten Arm, und den linken
ſanft ausgeſtreckt, mit den Knien jungfraͤulich
ein wenig zuſammengezogen, die Decke von ſich ge-
worfen, und nur den Unterleib mit dem ſeinenen
Tuche verhuͤllt; es war eben eine laue Nacht.
Ich heſah alsdenn ihr Zimmer. Vor einer
Madonna mit dem Kinde, nach der reizenden
von Raphael auf dem Stubl von einem ſeiner
beſten Schuͤler kopirt, brannt eine Lampe; und
eben ſo brannt eine andre vor einer Magdalena,
gewiß von dem Wundermanne der Lombardey
Antonio Allegri: ſolch eine unbeſchreibliche An-
muht war in den Umriſſen ihres Geſichts, ſo
lieblich die Farbe, und unuͤbertreflich das blende
Haar gemahlt, uͤber die jungen Bruͤſte reizend
wie von einem Luͤftchen verweht. Vor beyden
ſtanden
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Heinse, Wilhelm]: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Bd. 1. Lemgo, 1787, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello01_1787/228>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.