Vorurtheile vieler Jahrtausende noch nicht hei- len. Eins und eins ist warlich nicht viel mehr als einsiedlerisch und gegen die Natur; sie be- hauptet deßwegen auch immer ihre Rechte, wie jeder weiß, der nicht ganz blind ist. Bey der großen Mannichfaltigkeit wär es Unsinn, jeder- zeit von bloßem Brod zu leben. Jeder Mensch existirt für sich, und in keinem andern; wenn dieß die Natur gewollt hätte: so wären wir zu- sammengewachsen. Und gehts nicht so unter al- len andern Gattungen von Thieren, Gras und Kraut und Bäumen? Jedes vereinigt sich mit dem andern nach Gelegenheit. O ihr Armseeli- gen, die ihr keinen Begriff von Leben und Frey- heit habt und Großheit des Charakters! Daß dieß die reine wahre Lust ist, mit seiner ganzen Person, so wie man ist, wie ein Element gött- lich einzig unzerstörbar, lauter Gefühl und Geist, gleich einem Tropfen im Ocean durch das Meer der Wesen zu rollen, alles Vollkommne zu ge-
nie-
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Vorurtheile vieler Jahrtauſende noch nicht hei- len. Eins und eins iſt warlich nicht viel mehr als einſiedleriſch und gegen die Natur; ſie be- hauptet deßwegen auch immer ihre Rechte, wie jeder weiß, der nicht ganz blind iſt. Bey der großen Mannichfaltigkeit waͤr es Unſinn, jeder- zeit von bloßem Brod zu leben. Jeder Menſch exiſtirt fuͤr ſich, und in keinem andern; wenn dieß die Natur gewollt haͤtte: ſo waͤren wir zu- ſammengewachſen. Und gehts nicht ſo unter al- len andern Gattungen von Thieren, Gras und Kraut und Baͤumen? Jedes vereinigt ſich mit dem andern nach Gelegenheit. O ihr Armſeeli- gen, die ihr keinen Begriff von Leben und Frey- heit habt und Großheit des Charakters! Daß dieß die reine wahre Luſt iſt, mit ſeiner ganzen Perſon, ſo wie man iſt, wie ein Element goͤtt- lich einzig unzerſtoͤrbar, lauter Gefuͤhl und Geiſt, gleich einem Tropfen im Ocean durch das Meer der Weſen zu rollen, alles Vollkommne zu ge-
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Vorurtheile vieler Jahrtauſende noch nicht hei-
len. Eins und eins iſt warlich nicht viel mehr
als einſiedleriſch und gegen die Natur; ſie be-
hauptet deßwegen auch immer ihre Rechte, wie
jeder weiß, der nicht ganz blind iſt. Bey der
großen Mannichfaltigkeit waͤr es Unſinn, jeder-
zeit von bloßem Brod zu leben. Jeder Menſch
exiſtirt fuͤr ſich, und in keinem andern; wenn
dieß die Natur gewollt haͤtte: ſo waͤren wir zu-
ſammengewachſen. Und gehts nicht ſo unter al-
len andern Gattungen von Thieren, Gras und
Kraut und Baͤumen? Jedes vereinigt ſich mit
dem andern nach Gelegenheit. O ihr Armſeeli-
gen, die ihr keinen Begriff von Leben und Frey-
heit habt und Großheit des Charakters! Daß
dieß die reine wahre Luſt iſt, mit ſeiner ganzen
Perſon, ſo wie man iſt, wie ein Element goͤtt-
lich einzig unzerſtoͤrbar, lauter Gefuͤhl und Geiſt,
gleich einem Tropfen im Ocean durch das Meer
der Weſen zu rollen, alles Vollkommne zu ge-
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[Heinse, Wilhelm]: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Bd. 2. Lemgo, 1787, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello02_1787/59>, abgerufen am 21.11.2024.
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