Hauptpunkt hab ich vergessen, dir zu erzehlen: sie macht und singt aus dem Stegreif vortrefliche Verse, mit einer so tonvollen silbernen Stimme, daß sie alle Augenblick eine Muse auf dem Par- naß, oder eine Sirene in den Fluthen vorstellen kann. Dieß bringt zwischen uns große Ergötz- lichkeit hervor in Einsamkeit und Gesellschaft; und sie sagt im Scherz, wir wären so für einan- der geschaffen, um die erste Ehe stiften zu kön- nen, wenn nicht schon ein ander Paar den Fluch aller Unglücklichen, die an diesem Joche ziehn, auf sich geladen hätte.
Ach, wer weiß, wie dieß enden wird! Mir ist so warm in der Brust, daß michs wie auf einen Punkt brennt, und dabey zuweilen bange. Eine Gluth scheint mein innerstes Leben anzugreiffen und davon zu zehren; ich gehe her- um wie ein Thier, das an einem Schusse blutet. In Augenblicken fahr ich vor Schrecken zusam- men, wie ein junges Rind, dem der Löwe brüllt.
Ich
Hauptpunkt hab ich vergeſſen, dir zu erzehlen: ſie macht und ſingt aus dem Stegreif vortrefliche Verſe, mit einer ſo tonvollen ſilbernen Stimme, daß ſie alle Augenblick eine Muſe auf dem Par- naß, oder eine Sirene in den Fluthen vorſtellen kann. Dieß bringt zwiſchen uns große Ergoͤtz- lichkeit hervor in Einſamkeit und Geſellſchaft; und ſie ſagt im Scherz, wir waͤren ſo fuͤr einan- der geſchaffen, um die erſte Ehe ſtiften zu koͤn- nen, wenn nicht ſchon ein ander Paar den Fluch aller Ungluͤcklichen, die an dieſem Joche ziehn, auf ſich geladen haͤtte.
Ach, wer weiß, wie dieß enden wird! Mir iſt ſo warm in der Bruſt, daß michs wie auf einen Punkt brennt, und dabey zuweilen bange. Eine Gluth ſcheint mein innerſtes Leben anzugreiffen und davon zu zehren; ich gehe her- um wie ein Thier, das an einem Schuſſe blutet. In Augenblicken fahr ich vor Schrecken zuſam- men, wie ein junges Rind, dem der Loͤwe bruͤllt.
Ich
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Hauptpunkt hab ich vergeſſen, dir zu erzehlen:
ſie macht und ſingt aus dem Stegreif vortrefliche
Verſe, mit einer ſo tonvollen ſilbernen Stimme,
daß ſie alle Augenblick eine Muſe auf dem Par-
naß, oder eine Sirene in den Fluthen vorſtellen
kann. Dieß bringt zwiſchen uns große Ergoͤtz-
lichkeit hervor in Einſamkeit und Geſellſchaft;
und ſie ſagt im Scherz, wir waͤren ſo fuͤr einan-
der geſchaffen, um die erſte Ehe ſtiften zu koͤn-
nen, wenn nicht ſchon ein ander Paar den Fluch
aller Ungluͤcklichen, die an dieſem Joche ziehn,
auf ſich geladen haͤtte.
Ach, wer weiß, wie dieß enden wird!
Mir iſt ſo warm in der Bruſt, daß michs wie
auf einen Punkt brennt, und dabey zuweilen
bange. Eine Gluth ſcheint mein innerſtes Leben
anzugreiffen und davon zu zehren; ich gehe her-
um wie ein Thier, das an einem Schuſſe blutet.
In Augenblicken fahr ich vor Schrecken zuſam-
men, wie ein junges Rind, dem der Loͤwe bruͤllt.
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[Heinse, Wilhelm]: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Bd. 2. Lemgo, 1787, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello02_1787/67>, abgerufen am 21.11.2024.
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