kenntniss, das heisst, von Anfangspuncten des Wissens die Rede seyn kann; keineswegs aber von Real-Princi- pien, das heisst, Anfangspuncten des Seyns und Gesche- bens. Denn wie, und ob überhaupt, wir die letztern zu erkennen vermögen? das ist eben die Frage; es ist keine Gewissheit, von der man ausgehn könnte. Und den Leh- ren, nach welchen es irgend ein Reales geben soll, das man unmittelbar und ursprünglich erkenne, steht die That- sache entgegen, dass sie bezweifelt werden, da doch kein Zweifel möglich wäre, wenn durch irgend ein Princip des Wissens geradezu ein realer Gegenstand gewusst würde. Meinerseits benachrichtige ich den Leser, dass ich alle vorgebliche Identität von Ideal- und Real-Prin- cipien schlechthin leugne, und jede Behauptung der Art als einen Schlagbaum betrachte, wodurch der Weg zur Wahrheit gleich Anfangs versperrt wird. Alles unmittel- bar-Gegebene ist Erscheinung; alle Kenntniss des Rea- len beruht auf der Einsicht, dass das Gegebene nicht er- scheinen könnte, wenn das Reale nicht wäre. Die Schlüsse aber von der Erscheinung auf das Reale, beruhen nicht auf eingebildeten Formen des Anschauens und Denkens; -- dergleichen Manche in dem Raume und der Zeit, ja sogar in dem Causal-Gesetze, oder noch allgemeiner in einem sogenannten Satze des Grundes zu finden glau- ben; dergestalt, dass sie diese Formen für zufällige Be- dingungen halten, auf welche nun einmal das menschli- che Erkenntnissvermögen beschränkt sey, während andre Vernunftwesen wohl eine andre Einrichtung ihres Den- kens haben könnten. -- Wer dieser Meinung zugethan ist, der verfährt consequent, wenn er die Schlüsse von der Erscheinung auf das Reale für ein blosses Ereigniss in unserm Erkenntnissvermögen hält; der Fehler liegt aber daran, dass er die Formen des Denkens bloss empirisch kennt, ohne Einsicht in deren innere und unabänderliche Nothwendigkeit. Wäre ihm diese klar, so würde er auch richtigen Schlüssen vertrauen; und das Suchen nach ei- nem höhern Standpuncte, auf welchem die einmal er-
kenntniſs, das heiſst, von Anfangspuncten des Wissens die Rede seyn kann; keineswegs aber von Real-Princi- pien, das heiſst, Anfangspuncten des Seyns und Gesche- bens. Denn wie, und ob überhaupt, wir die letztern zu erkennen vermögen? das ist eben die Frage; es ist keine Gewiſsheit, von der man ausgehn könnte. Und den Leh- ren, nach welchen es irgend ein Reales geben soll, das man unmittelbar und ursprünglich erkenne, steht die That- sache entgegen, daſs sie bezweifelt werden, da doch kein Zweifel möglich wäre, wenn durch irgend ein Princip des Wissens geradezu ein realer Gegenstand gewuſst würde. Meinerseits benachrichtige ich den Leser, daſs ich alle vorgebliche Identität von Ideal- und Real-Prin- cipien schlechthin leugne, und jede Behauptung der Art als einen Schlagbaum betrachte, wodurch der Weg zur Wahrheit gleich Anfangs versperrt wird. Alles unmittel- bar-Gegebene ist Erscheinung; alle Kenntniſs des Rea- len beruht auf der Einsicht, daſs das Gegebene nicht er- scheinen könnte, wenn das Reale nicht wäre. Die Schlüsse aber von der Erscheinung auf das Reale, beruhen nicht auf eingebildeten Formen des Anschauens und Denkens; — dergleichen Manche in dem Raume und der Zeit, ja sogar in dem Causal-Gesetze, oder noch allgemeiner in einem sogenannten Satze des Grundes zu finden glau- ben; dergestalt, daſs sie diese Formen für zufällige Be- dingungen halten, auf welche nun einmal das menschli- che Erkenntniſsvermögen beschränkt sey, während andre Vernunftwesen wohl eine andre Einrichtung ihres Den- kens haben könnten. — Wer dieser Meinung zugethan ist, der verfährt consequent, wenn er die Schlüsse von der Erscheinung auf das Reale für ein bloſses Ereigniſs in unserm Erkenntniſsvermögen hält; der Fehler liegt aber daran, daſs er die Formen des Denkens bloſs empirisch kennt, ohne Einsicht in deren innere und unabänderliche Nothwendigkeit. Wäre ihm diese klar, so würde er auch richtigen Schlüssen vertrauen; und das Suchen nach ei- nem höhern Standpuncte, auf welchem die einmal er-
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kenntniſs, das heiſst, von Anfangspuncten des Wissens
die Rede seyn kann; keineswegs aber von Real-Princi-
pien, das heiſst, Anfangspuncten des Seyns und Gesche-
bens. Denn wie, und ob überhaupt, wir die letztern zu
erkennen vermögen? das ist eben die Frage; es ist keine
Gewiſsheit, von der man ausgehn könnte. Und den Leh-
ren, nach welchen es irgend ein Reales geben soll, das
man unmittelbar und ursprünglich erkenne, steht die That-
sache entgegen, daſs sie bezweifelt werden, da doch kein
Zweifel möglich wäre, wenn durch irgend ein Princip
des Wissens geradezu ein realer Gegenstand gewuſst
würde. Meinerseits benachrichtige ich den Leser, daſs
ich alle vorgebliche Identität von Ideal- und Real-Prin-
cipien schlechthin leugne, und jede Behauptung der Art
als einen Schlagbaum betrachte, wodurch der Weg zur
Wahrheit gleich Anfangs versperrt wird. Alles unmittel-
bar-Gegebene ist Erscheinung; alle Kenntniſs des Rea-
len beruht auf der Einsicht, daſs das Gegebene nicht er-
scheinen könnte, wenn das Reale nicht wäre. Die Schlüsse
aber von der Erscheinung auf das Reale, beruhen nicht
auf eingebildeten Formen des Anschauens und Denkens;
— dergleichen Manche in dem Raume und der Zeit, ja
sogar in dem Causal-Gesetze, oder noch allgemeiner in
einem sogenannten Satze des Grundes zu finden glau-
ben; dergestalt, daſs sie diese Formen für zufällige Be-
dingungen halten, auf welche nun einmal das menschli-
che Erkenntniſsvermögen beschränkt sey, während andre
Vernunftwesen wohl eine andre Einrichtung ihres Den-
kens haben könnten. — Wer dieser Meinung zugethan
ist, der verfährt consequent, wenn er die Schlüsse von
der Erscheinung auf das Reale für ein bloſses Ereigniſs
in unserm Erkenntniſsvermögen hält; der Fehler liegt aber
daran, daſs er die Formen des Denkens bloſs empirisch
kennt, ohne Einsicht in deren innere und unabänderliche
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/25>, abgerufen am 03.12.2024.
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