kannte Wahrheit wohl wieder Irrthum werden möge, würde er als eine Träumerey betrachten, deren Unge- reimtheit daraus entsteht, dass die Evidenz des Wachens verloren geht und vergessen wird. Diejenigen, welche auf verschiedenen Standpuncten Verschiedenes wahr fan- den, hatten auf keinem richtig gesehen.
Eine zweyte Bemerkung, die gleich hier nöthig scheint, betrifft das Verhältniss der Principien und Methoden. Beyde bestimmen einander gegenseitig. Näm- lich ein Princip soll die doppelte Eigenschaft besitzen, eigene Gewissheit ursprünglich zu haben, und andere Ge- wissheit zu erzeugen. Die Art und Weise, wie das letz- tere geschieht, ist die Methode. Daher richtet sich aber auch die Methode nach dem Princip, auf welches sie passt; und ihm selbst muss sie abgewonnen werden. Der Denker, welcher in der Mitte seiner Beschäftigung mit einem (nicht willkührlichen, sondern gegebenen) Begriffe, gewahr wird, dass dieser Begriff ihm nöthige neue Be- griffe an jenen anzuknüpfen, die zu ihm wesentlich gehören: derselbe findet, und erfindet eben dadurch die Methode, welche zu jenem Begriffe, als dem Princip, gehören wird. Ueber ein solches Verhältniss zwischen Methoden und den entsprechenden Principien lassen sich allgemeine Untersuchungen anstellen; aber in der reinen formalen Logik muss man dergleichen nicht suchen; denn eben weil diese von allem Inhalte der Begriffe abstrahirt, kann sie das Eigenthümliche besonderer Erkenntnissquel- len, und die besondere Art, wie daraus geschöpft werden muss, nicht erreichen. Daher kann auch die Frage, wie vieles aus einem einzigen Princip könne abgeleitet wer- den? nicht durch die allbekannte Bemerkung, dass zu einer logischen Conclusion wenigstens zwey Prämissen gehören, zurückgewiesen werden. Wer in der Philoso- phie gute Fortschritte machen will, der muss sich vor al- len Dingen hüten, in der Form seines Denkens nicht ein- seitig zu werden, und sich keiner beschränkten Angewöh- nung zu überlassen. Fast jede Classe von Problemen
kannte Wahrheit wohl wieder Irrthum werden möge, würde er als eine Träumerey betrachten, deren Unge- reimtheit daraus entsteht, daſs die Evidenz des Wachens verloren geht und vergessen wird. Diejenigen, welche auf verschiedenen Standpuncten Verschiedenes wahr fan- den, hatten auf keinem richtig gesehen.
Eine zweyte Bemerkung, die gleich hier nöthig scheint, betrifft das Verhältniſs der Principien und Methoden. Beyde bestimmen einander gegenseitig. Näm- lich ein Princip soll die doppelte Eigenschaft besitzen, eigene Gewiſsheit ursprünglich zu haben, und andere Ge- wiſsheit zu erzeugen. Die Art und Weise, wie das letz- tere geschieht, ist die Methode. Daher richtet sich aber auch die Methode nach dem Princip, auf welches sie paſst; und ihm selbst muſs sie abgewonnen werden. Der Denker, welcher in der Mitte seiner Beschäftigung mit einem (nicht willkührlichen, sondern gegebenen) Begriffe, gewahr wird, daſs dieser Begriff ihm nöthige neue Be- griffe an jenen anzuknüpfen, die zu ihm wesentlich gehören: derselbe findet, und erfindet eben dadurch die Methode, welche zu jenem Begriffe, als dem Princip, gehören wird. Ueber ein solches Verhältniſs zwischen Methoden und den entsprechenden Principien lassen sich allgemeine Untersuchungen anstellen; aber in der reinen formalen Logik muſs man dergleichen nicht suchen; denn eben weil diese von allem Inhalte der Begriffe abstrahirt, kann sie das Eigenthümliche besonderer Erkenntniſsquel- len, und die besondere Art, wie daraus geschöpft werden muſs, nicht erreichen. Daher kann auch die Frage, wie vieles aus einem einzigen Princip könne abgeleitet wer- den? nicht durch die allbekannte Bemerkung, daſs zu einer logischen Conclusion wenigstens zwey Prämissen gehören, zurückgewiesen werden. Wer in der Philoso- phie gute Fortschritte machen will, der muſs sich vor al- len Dingen hüten, in der Form seines Denkens nicht ein- seitig zu werden, und sich keiner beschränkten Angewöh- nung zu überlassen. Fast jede Classe von Problemen
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kannte Wahrheit wohl wieder Irrthum werden möge,
würde er als eine Träumerey betrachten, deren Unge-
reimtheit daraus entsteht, daſs die Evidenz des Wachens
verloren geht und vergessen wird. Diejenigen, welche
auf verschiedenen Standpuncten Verschiedenes wahr fan-
den, hatten auf keinem richtig gesehen.
Eine zweyte Bemerkung, die gleich hier nöthig scheint,
betrifft das Verhältniſs der Principien und Methoden.
Beyde bestimmen einander gegenseitig. Näm-
lich ein Princip soll die doppelte Eigenschaft besitzen,
eigene Gewiſsheit ursprünglich zu haben, und andere Ge-
wiſsheit zu erzeugen. Die Art und Weise, wie das letz-
tere geschieht, ist die Methode. Daher richtet sich aber
auch die Methode nach dem Princip, auf welches sie
paſst; und ihm selbst muſs sie abgewonnen werden. Der
Denker, welcher in der Mitte seiner Beschäftigung mit
einem (nicht willkührlichen, sondern gegebenen) Begriffe,
gewahr wird, daſs dieser Begriff ihm nöthige neue Be-
griffe an jenen anzuknüpfen, die zu ihm wesentlich
gehören: derselbe findet, und erfindet eben dadurch die
Methode, welche zu jenem Begriffe, als dem Princip,
gehören wird. Ueber ein solches Verhältniſs zwischen
Methoden und den entsprechenden Principien lassen sich
allgemeine Untersuchungen anstellen; aber in der reinen
formalen Logik muſs man dergleichen nicht suchen; denn
eben weil diese von allem Inhalte der Begriffe abstrahirt,
kann sie das Eigenthümliche besonderer Erkenntniſsquel-
len, und die besondere Art, wie daraus geschöpft werden
muſs, nicht erreichen. Daher kann auch die Frage, wie
vieles aus einem einzigen Princip könne abgeleitet wer-
den? nicht durch die allbekannte Bemerkung, daſs zu
einer logischen Conclusion wenigstens zwey Prämissen
gehören, zurückgewiesen werden. Wer in der Philoso-
phie gute Fortschritte machen will, der muſs sich vor al-
len Dingen hüten, in der Form seines Denkens nicht ein-
seitig zu werden, und sich keiner beschränkten Angewöh-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/26>, abgerufen am 09.11.2024.
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