Schwellen. Wir haben am Schlusse des vorhergehenden Capitels bemerkt, dass während eines fortdauernden Flusses neu eintretender Vorstellungen, die älteren eine Zeitlang auf der mechanischen Schwelle verweilen können. Wird eine solche wieder erweckt durch eine ihr gleichartige neue, so muss ihr Hervortreten eine viel grössere Lebhaftigkeit zeigen, als beym Hervortreten von der statischen Schwelle vorkommen mag. Eigentlich aber ist das Phänomen von ganz andrer Art als das vorige. Dort wurde eine Vor- stellung auf kurze Zeit hervorgerufen, die wieder sinken musste; hier wird eine Vorstellung wieder hergestellt, die nur auf eine Zeitlang aus dem Bewusstseyn verdrängt war. Dort, welches sehr merkwürdig ist, erschien die gerufene Vorstellung sogleich, aber schwach, und mit all- mählig anwachsender Geschwindigkeit; hier kann sie nicht sogleich erscheinen; kommt sie aber, so geschieht es wie mit einem Stosse, dessen Geschwindigkeit jedoch nicht anhält, sondern bald abnimmt. Dieses einzusehn, darf man nur die bekannten Bedingungen des Phänomens er- wägen. Die auf der mechanischen Schwelle verweilende Vorstellung kann sich nicht eher erheben, als bis eine gewisse Hemmungssumme gesunken ist; sobald dieses ge- schehen, steigt sie von selbst mit einer Geschwindigkeit, die Anfangs am grössten ist und sich bald vermindert. Durch das Hinzukommen der gleichartigen neuen Vor- stellung wird jene eigentlich nicht geweckt, es wird nur das Sinken derer beschleunigt, welche ihrem Hervortre- ten hinderlich waren. Also nicht eher, als bis dieses Sinken derjenigen Hemmungssumme genügt, um derent- willen jene Vorstellung auf der mechanischen Schwelle verweilt, kann die letztere hervortreten; die Verweilung dauert noch einige, wenn gleich sehr kleine und vielleicht unmerkliche Zeit; dann springt die nun befreyte Vorstel- lung hervor, und verschmilzt sehr schnell in einem be- deutenden Grade mit der neuen Wahrnehmung.
Anmerkung. Auf den schwierigsten Gegenstand dieses Capitels, die Untersuchung des §. 84., habe ich
die
Schwellen. Wir haben am Schlusse des vorhergehenden Capitels bemerkt, daſs während eines fortdauernden Flusses neu eintretender Vorstellungen, die älteren eine Zeitlang auf der mechanischen Schwelle verweilen können. Wird eine solche wieder erweckt durch eine ihr gleichartige neue, so muſs ihr Hervortreten eine viel gröſsere Lebhaftigkeit zeigen, als beym Hervortreten von der statischen Schwelle vorkommen mag. Eigentlich aber ist das Phänomen von ganz andrer Art als das vorige. Dort wurde eine Vor- stellung auf kurze Zeit hervorgerufen, die wieder sinken muſste; hier wird eine Vorstellung wieder hergestellt, die nur auf eine Zeitlang aus dem Bewuſstseyn verdrängt war. Dort, welches sehr merkwürdig ist, erschien die gerufene Vorstellung sogleich, aber schwach, und mit all- mählig anwachsender Geschwindigkeit; hier kann sie nicht sogleich erscheinen; kommt sie aber, so geschieht es wie mit einem Stoſse, dessen Geschwindigkeit jedoch nicht anhält, sondern bald abnimmt. Dieses einzusehn, darf man nur die bekannten Bedingungen des Phänomens er- wägen. Die auf der mechanischen Schwelle verweilende Vorstellung kann sich nicht eher erheben, als bis eine gewisse Hemmungssumme gesunken ist; sobald dieses ge- schehen, steigt sie von selbst mit einer Geschwindigkeit, die Anfangs am gröſsten ist und sich bald vermindert. Durch das Hinzukommen der gleichartigen neuen Vor- stellung wird jene eigentlich nicht geweckt, es wird nur das Sinken derer beschleunigt, welche ihrem Hervortre- ten hinderlich waren. Also nicht eher, als bis dieses Sinken derjenigen Hemmungssumme genügt, um derent- willen jene Vorstellung auf der mechanischen Schwelle verweilt, kann die letztere hervortreten; die Verweilung dauert noch einige, wenn gleich sehr kleine und vielleicht unmerkliche Zeit; dann springt die nun befreyte Vorstel- lung hervor, und verschmilzt sehr schnell in einem be- deutenden Grade mit der neuen Wahrnehmung.
Anmerkung. Auf den schwierigsten Gegenstand dieses Capitels, die Untersuchung des §. 84., habe ich
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Schwellen. Wir haben am Schlusse des vorhergehenden
Capitels bemerkt, daſs während eines fortdauernden Flusses
neu eintretender Vorstellungen, die älteren eine Zeitlang auf
der mechanischen Schwelle verweilen können. Wird eine
solche wieder erweckt durch eine ihr gleichartige neue,
so muſs ihr Hervortreten eine viel gröſsere Lebhaftigkeit
zeigen, als beym Hervortreten von der statischen Schwelle
vorkommen mag. Eigentlich aber ist das Phänomen von
ganz andrer Art als das vorige. Dort wurde eine Vor-
stellung auf kurze Zeit hervorgerufen, die wieder sinken
muſste; hier wird eine Vorstellung wieder hergestellt, die
nur auf eine Zeitlang aus dem Bewuſstseyn verdrängt
war. Dort, welches sehr merkwürdig ist, erschien die
gerufene Vorstellung sogleich, aber schwach, und mit all-
mählig anwachsender Geschwindigkeit; hier kann sie nicht
sogleich erscheinen; kommt sie aber, so geschieht es wie
mit einem Stoſse, dessen Geschwindigkeit jedoch nicht
anhält, sondern bald abnimmt. Dieses einzusehn, darf
man nur die bekannten Bedingungen des Phänomens er-
wägen. Die auf der mechanischen Schwelle verweilende
Vorstellung kann sich nicht eher erheben, als bis eine
gewisse Hemmungssumme gesunken ist; sobald dieses ge-
schehen, steigt sie von selbst mit einer Geschwindigkeit,
die Anfangs am gröſsten ist und sich bald vermindert.
Durch das Hinzukommen der gleichartigen neuen Vor-
stellung wird jene eigentlich nicht geweckt, es wird nur
das Sinken derer beschleunigt, welche ihrem Hervortre-
ten hinderlich waren. Also nicht eher, als bis dieses
Sinken derjenigen Hemmungssumme genügt, um derent-
willen jene Vorstellung auf der mechanischen Schwelle
verweilt, kann die letztere hervortreten; die Verweilung
dauert noch einige, wenn gleich sehr kleine und vielleicht
unmerkliche Zeit; dann springt die nun befreyte Vorstel-
lung hervor, und verschmilzt sehr schnell in einem be-
deutenden Grade mit der neuen Wahrnehmung.
Anmerkung. Auf den schwierigsten Gegenstand
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/308>, abgerufen am 21.11.2024.
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