Selbstbetrachtung niemals reine Resultate liefern; der Be- obachter kennt sich, den er kennen lernen will, schon viel zu gut im Voraus.
Die eigne Lebensgeschichte ist jedoch weder eine völlig zusammenhängende Kenntniss, noch aus bestimmt begränzten Theilen zusammengesetzt. Ihre Parthieen tre- ten durch Anstrengung sich ihrer zu erinnern, oder durch zufällige Veranlassungen, heller und ausführlicher hervor; wie viele aber der übrig gebliebenen Lücken sich noch möchten ausfüllen lassen, das leidet keine genaue An- gabe.
Der Faden der Lebensgeschichte ist überdies sehr vielfältig der Faden äusserer Begebenheiten, die in ihrem Zusammenhange mit Interesse betrachtet wurden, und wozu nur hinterher hinzugedacht ist, dass man die- ses Alles erlebt habe. Wiewohl nun auch die äussere Begebenheiten innerlich mussten aufgefasst werden, und alle innere Auffassungen zu den Thatsachen des Bewusst- seyns zu rechnen sind: so kann man doch keinesweges behaupten, dass das Auffassen selbst wiederum innerlich wahrgenommen sey, -- eben so wenig, als dass dieses Wahrnehmen des Auffassens abermals Gegenstand einer höhern Wahrnehmung geworden sey, -- welches ins Unendliche laufen würde! Demnach ist der Gegenstand der Wahrnehmung keines- weges immerfort Wir selbst; vielmehr wird die innere Wahrnehmung häufig durch die äussere, oder auch durch andere Gemüthsbewegungen unterbrochen. Ueberdies lässt sich das Eintreten einer erneuerten, also früher erloschen gewesenen, Aufmerk- samkeit auf uns selbst, oft genug deutlich wahrnehmen.
§. 4.
Was aber in solchen Zeiten in uns vorging, da wir weder willkührlich noch unwillkührlich auf uns achteten: das erfahren wir sehr häufig aus dem Munde Anderer, oder wir schliessen es aus den Producten unserer eige- nen Thätigkeit; und dieses giebt eine dritte Art, wie wir
Selbstbetrachtung niemals reine Resultate liefern; der Be- obachter kennt sich, den er kennen lernen will, schon viel zu gut im Voraus.
Die eigne Lebensgeschichte ist jedoch weder eine völlig zusammenhängende Kenntniſs, noch aus bestimmt begränzten Theilen zusammengesetzt. Ihre Parthieen tre- ten durch Anstrengung sich ihrer zu erinnern, oder durch zufällige Veranlassungen, heller und ausführlicher hervor; wie viele aber der übrig gebliebenen Lücken sich noch möchten ausfüllen lassen, das leidet keine genaue An- gabe.
Der Faden der Lebensgeschichte ist überdies sehr vielfältig der Faden äuſserer Begebenheiten, die in ihrem Zusammenhange mit Interesse betrachtet wurden, und wozu nur hinterher hinzugedacht ist, daſs man die- ses Alles erlebt habe. Wiewohl nun auch die äuſsere Begebenheiten innerlich muſsten aufgefaſst werden, und alle innere Auffassungen zu den Thatsachen des Bewuſst- seyns zu rechnen sind: so kann man doch keinesweges behaupten, daſs das Auffassen selbst wiederum innerlich wahrgenommen sey, — eben so wenig, als daſs dieses Wahrnehmen des Auffassens abermals Gegenstand einer höhern Wahrnehmung geworden sey, — welches ins Unendliche laufen würde! Demnach ist der Gegenstand der Wahrnehmung keines- weges immerfort Wir selbst; vielmehr wird die innere Wahrnehmung häufig durch die äuſsere, oder auch durch andere Gemüthsbewegungen unterbrochen. Ueberdies läſst sich das Eintreten einer erneuerten, also früher erloschen gewesenen, Aufmerk- samkeit auf uns selbst, oft genug deutlich wahrnehmen.
§. 4.
Was aber in solchen Zeiten in uns vorging, da wir weder willkührlich noch unwillkührlich auf uns achteten: das erfahren wir sehr häufig aus dem Munde Anderer, oder wir schlieſsen es aus den Producten unserer eige- nen Thätigkeit; und dieses giebt eine dritte Art, wie wir
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0032"n="12"/>
Selbstbetrachtung niemals reine Resultate liefern; der Be-<lb/>
obachter kennt sich, den er kennen lernen will, schon<lb/>
viel zu gut im Voraus.</p><lb/><p>Die eigne Lebensgeschichte ist jedoch weder eine<lb/>
völlig zusammenhängende Kenntniſs, noch aus bestimmt<lb/>
begränzten Theilen zusammengesetzt. Ihre Parthieen tre-<lb/>
ten durch Anstrengung sich ihrer zu erinnern, oder durch<lb/>
zufällige Veranlassungen, heller und ausführlicher hervor;<lb/>
wie viele aber der übrig gebliebenen Lücken sich noch<lb/>
möchten ausfüllen lassen, das leidet keine genaue An-<lb/>
gabe.</p><lb/><p>Der Faden der Lebensgeschichte ist überdies sehr<lb/>
vielfältig der Faden äuſserer Begebenheiten, die in ihrem<lb/>
Zusammenhange mit Interesse betrachtet wurden, und<lb/>
wozu nur <hirendition="#g">hinterher hinzugedacht</hi> ist, daſs man die-<lb/>
ses Alles erlebt habe. Wiewohl nun auch die äuſsere<lb/>
Begebenheiten innerlich muſsten aufgefaſst werden, und<lb/>
alle innere Auffassungen zu den Thatsachen des Bewuſst-<lb/>
seyns zu rechnen sind: so kann man doch keinesweges<lb/>
behaupten, <hirendition="#g">daſs das Auffassen selbst wiederum<lb/>
innerlich wahrgenommen sey</hi>, — eben so wenig,<lb/>
als daſs dieses Wahrnehmen des Auffassens abermals<lb/>
Gegenstand einer höhern Wahrnehmung geworden sey,<lb/>— welches ins Unendliche laufen würde! <hirendition="#g">Demnach<lb/>
ist der Gegenstand der Wahrnehmung keines-<lb/>
weges immerfort Wir selbst; vielmehr wird die<lb/>
innere Wahrnehmung häufig durch die äuſsere,<lb/>
oder auch durch andere Gemüthsbewegungen<lb/>
unterbrochen</hi>. Ueberdies läſst sich das Eintreten einer<lb/><hirendition="#g">erneuerten</hi>, also früher erloschen gewesenen, Aufmerk-<lb/>
samkeit auf uns selbst, oft genug deutlich wahrnehmen.</p></div><lb/><divn="3"><head>§. 4.</head><lb/><p>Was aber in solchen Zeiten in uns vorging, da wir<lb/>
weder willkührlich noch unwillkührlich auf uns achteten:<lb/>
das erfahren wir sehr häufig aus dem Munde Anderer,<lb/>
oder wir schlieſsen es aus den Producten unserer eige-<lb/>
nen Thätigkeit; und dieses giebt eine dritte Art, wie wir<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[12/0032]
Selbstbetrachtung niemals reine Resultate liefern; der Be-
obachter kennt sich, den er kennen lernen will, schon
viel zu gut im Voraus.
Die eigne Lebensgeschichte ist jedoch weder eine
völlig zusammenhängende Kenntniſs, noch aus bestimmt
begränzten Theilen zusammengesetzt. Ihre Parthieen tre-
ten durch Anstrengung sich ihrer zu erinnern, oder durch
zufällige Veranlassungen, heller und ausführlicher hervor;
wie viele aber der übrig gebliebenen Lücken sich noch
möchten ausfüllen lassen, das leidet keine genaue An-
gabe.
Der Faden der Lebensgeschichte ist überdies sehr
vielfältig der Faden äuſserer Begebenheiten, die in ihrem
Zusammenhange mit Interesse betrachtet wurden, und
wozu nur hinterher hinzugedacht ist, daſs man die-
ses Alles erlebt habe. Wiewohl nun auch die äuſsere
Begebenheiten innerlich muſsten aufgefaſst werden, und
alle innere Auffassungen zu den Thatsachen des Bewuſst-
seyns zu rechnen sind: so kann man doch keinesweges
behaupten, daſs das Auffassen selbst wiederum
innerlich wahrgenommen sey, — eben so wenig,
als daſs dieses Wahrnehmen des Auffassens abermals
Gegenstand einer höhern Wahrnehmung geworden sey,
— welches ins Unendliche laufen würde! Demnach
ist der Gegenstand der Wahrnehmung keines-
weges immerfort Wir selbst; vielmehr wird die
innere Wahrnehmung häufig durch die äuſsere,
oder auch durch andere Gemüthsbewegungen
unterbrochen. Ueberdies läſst sich das Eintreten einer
erneuerten, also früher erloschen gewesenen, Aufmerk-
samkeit auf uns selbst, oft genug deutlich wahrnehmen.
§. 4.
Was aber in solchen Zeiten in uns vorging, da wir
weder willkührlich noch unwillkührlich auf uns achteten:
das erfahren wir sehr häufig aus dem Munde Anderer,
oder wir schlieſsen es aus den Producten unserer eige-
nen Thätigkeit; und dieses giebt eine dritte Art, wie wir
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/32>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.