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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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einiger Psychologen, bey den seltenen und sonderbaren
Erscheinungen der Nachtwandler und Wahnsinnigen län-
ger zu verweilen, als bey denen, die sich im gewöhnli-
chen Zustande ereignen; oder auch nur, sich über die
Träume und ihre Sprünge mehr zu verwundern, als über
den regelmässigen Gedankengang der Wachenden. Na-
türlich ist es zwar, dass ausserordentliche Erscheinungen
zuerst die Aufmerksamkeit wecken und auf sich ziehen;
allein schon aus der Physik weiss man, dass von den
gewöhnlichsten Begebenheiten (z. B. von den Verände-
rungen des Wetters) die Gründe oft am tiefsten verbor-
gen liegen. Und in der Psychologie finden sich die gröss-
ten Schwierigkeiten eben da, wo man am schnellsten mit
einem Worte fertig zu werden glaubt. Ich erinnere nur
an das Wort Vernunft; dieses allbekannte Wort, dessen
Erklärung gewiss Jeder in seinem eignen Bewusstseyn
anzutreffen, behauptet, während er die psychologischen
Curiosa meistens bey Andern aufsucht. -- Es dürfte sich
finden, dass wir nicht so sehr Ursache hätten, die Nach-
richten von ungewöhnlichen Gemüthszuständen zu sam-
meln. Der Reichthum von Auffassungen, die wir täglich
an uns selbst machen können, ist eben so gross, als des-
sen Verarbeitung schwierig und weitläuftig; und in dem
Maasse, als wir für die Erscheinungen in uns, die allge-
meinen Gesetze erkennen, muss es uns auch möglich
werden, aus den nämlichen Gesetzen viel besser, als aus
blosser Uebertragung eigner Gefühle, die Gemüthszu-
stände Anderer, selbst in ihren weitesten Abweichungen
vom Gewöhnlichen, zu verstehen und zu erklären. So
braucht der Astronom nur den Lauf der bekanntesten
Planeten auf die Kegelschnitte zurückgeführt zu haben,
um seinen Calcul gar bald auch den neuesten und fremd-
artigsten Phänomenen am Himmel anpassen zu können.

Hiemit leugne ich jedoch keinesweges irgend einer
ächten psychologischen Beobachtung ihren Werth ab.
Für alle Erfahrungen muss sich irgendwo eine Stelle in
den Wissenschaften finden, wo sie willkommen seyn kön-

nen.

einiger Psychologen, bey den seltenen und sonderbaren
Erscheinungen der Nachtwandler und Wahnsinnigen län-
ger zu verweilen, als bey denen, die sich im gewöhnli-
chen Zustande ereignen; oder auch nur, sich über die
Träume und ihre Sprünge mehr zu verwundern, als über
den regelmäſsigen Gedankengang der Wachenden. Na-
türlich ist es zwar, daſs auſserordentliche Erscheinungen
zuerst die Aufmerksamkeit wecken und auf sich ziehen;
allein schon aus der Physik weiſs man, daſs von den
gewöhnlichsten Begebenheiten (z. B. von den Verände-
rungen des Wetters) die Gründe oft am tiefsten verbor-
gen liegen. Und in der Psychologie finden sich die gröſs-
ten Schwierigkeiten eben da, wo man am schnellsten mit
einem Worte fertig zu werden glaubt. Ich erinnere nur
an das Wort Vernunft; dieses allbekannte Wort, dessen
Erklärung gewiſs Jeder in seinem eignen Bewuſstseyn
anzutreffen, behauptet, während er die psychologischen
Curiosa meistens bey Andern aufsucht. — Es dürfte sich
finden, daſs wir nicht so sehr Ursache hätten, die Nach-
richten von ungewöhnlichen Gemüthszuständen zu sam-
meln. Der Reichthum von Auffassungen, die wir täglich
an uns selbst machen können, ist eben so groſs, als des-
sen Verarbeitung schwierig und weitläuftig; und in dem
Maaſse, als wir für die Erscheinungen in uns, die allge-
meinen Gesetze erkennen, muſs es uns auch möglich
werden, aus den nämlichen Gesetzen viel besser, als aus
bloſser Uebertragung eigner Gefühle, die Gemüthszu-
stände Anderer, selbst in ihren weitesten Abweichungen
vom Gewöhnlichen, zu verstehen und zu erklären. So
braucht der Astronom nur den Lauf der bekanntesten
Planeten auf die Kegelschnitte zurückgeführt zu haben,
um seinen Calcul gar bald auch den neuesten und fremd-
artigsten Phänomenen am Himmel anpassen zu können.

Hiemit leugne ich jedoch keinesweges irgend einer
ächten psychologischen Beobachtung ihren Werth ab.
Für alle Erfahrungen muſs sich irgendwo eine Stelle in
den Wissenschaften finden, wo sie willkommen seyn kön-

nen.
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[16/0036] einiger Psychologen, bey den seltenen und sonderbaren Erscheinungen der Nachtwandler und Wahnsinnigen län- ger zu verweilen, als bey denen, die sich im gewöhnli- chen Zustande ereignen; oder auch nur, sich über die Träume und ihre Sprünge mehr zu verwundern, als über den regelmäſsigen Gedankengang der Wachenden. Na- türlich ist es zwar, daſs auſserordentliche Erscheinungen zuerst die Aufmerksamkeit wecken und auf sich ziehen; allein schon aus der Physik weiſs man, daſs von den gewöhnlichsten Begebenheiten (z. B. von den Verände- rungen des Wetters) die Gründe oft am tiefsten verbor- gen liegen. Und in der Psychologie finden sich die gröſs- ten Schwierigkeiten eben da, wo man am schnellsten mit einem Worte fertig zu werden glaubt. Ich erinnere nur an das Wort Vernunft; dieses allbekannte Wort, dessen Erklärung gewiſs Jeder in seinem eignen Bewuſstseyn anzutreffen, behauptet, während er die psychologischen Curiosa meistens bey Andern aufsucht. — Es dürfte sich finden, daſs wir nicht so sehr Ursache hätten, die Nach- richten von ungewöhnlichen Gemüthszuständen zu sam- meln. Der Reichthum von Auffassungen, die wir täglich an uns selbst machen können, ist eben so groſs, als des- sen Verarbeitung schwierig und weitläuftig; und in dem Maaſse, als wir für die Erscheinungen in uns, die allge- meinen Gesetze erkennen, muſs es uns auch möglich werden, aus den nämlichen Gesetzen viel besser, als aus bloſser Uebertragung eigner Gefühle, die Gemüthszu- stände Anderer, selbst in ihren weitesten Abweichungen vom Gewöhnlichen, zu verstehen und zu erklären. So braucht der Astronom nur den Lauf der bekanntesten Planeten auf die Kegelschnitte zurückgeführt zu haben, um seinen Calcul gar bald auch den neuesten und fremd- artigsten Phänomenen am Himmel anpassen zu können. Hiemit leugne ich jedoch keinesweges irgend einer ächten psychologischen Beobachtung ihren Werth ab. Für alle Erfahrungen muſs sich irgendwo eine Stelle in den Wissenschaften finden, wo sie willkommen seyn kön- nen.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/36>, abgerufen am 21.11.2024.