Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

wohl hüten müssen, den Erschleichungen Thür
und Thor zu öffnen
!

§. 5.

Ueber Beobachtung Anderer, als ein Mittel zur Auf-
findung psychologischer Thatsachen, lässt sich wohl kaum
etwas sagen, das nicht in die vorstehenden Erörterungen
zurückliefe. Denn, abgesehen von der Frage nach der
Glaubwürdigkeit der Zeugnisse, wird alles darauf ankom-
men, wieviel und wie genau jene Anderen von sich selbst
auffassen und erzählen, und wie richtig wir theils ihre
Erzählungen verstehen, theils die äussern Zeichen ihrer
inneren Zustände auslegen. Mit ihren eignen Auffassun-
gen nun sind jene in eben der Lage, wie wir mit den
unsrigen: um aber ihre Beschreibungen zu verstehen,
können wir nur unsre eignen innern Wahrnehmungen
zu Hülfe rufen. Daher beurtheilt denn auch Jeder die
Andern nach sich selbst; und die seltnern Zustände der
Leidenschaft oder Begeisterung, die zarteren Regungen
empfindlicher Gemüther, werden von der bey weitem grö-
sseren Menge der Menschen nicht verstanden.

Die erste Bemerkung, die sich hier aufdringt, ist
wohl diese, dass die Unsicherheit in den, auf dem Wege
der Ueberlieferung erworbenen psychologischen Kennt-
nissen, in einem zusammengesetzten Verhältnisse stehe,
und deshalb grösser sey, als bey der Selbstbeobachtung.
Denn hier vereinigen sich die Mängel und die Erschlei-
chungen in der überlieferten Nachricht mit denen in un-
serer Auslegung, und so laufen wir die Gefahr einer dop-
pelten Täuschung. Sie kann auch noch grösser werden,
wenn die Ueberlieferung durch eine ganze Reihe von
Menschen fortläuft, deren Jeder das Seinige hinzuthut.
Sollte wohl dieser Fall da statt finden, wo Einer von sei-
ner intellectualen Anschauung redet, und die Tradition
davon ihren Weg durch Kopf und Mund verschiedent-
lich gestimmter Schwärmer nimmt, die Alle in sich selbst
das wiederfinden wollen, was sie vernahmen?

Zu einer zweyten Bemerkung veranlasst die Neigung

wohl hüten müssen, den Erschleichungen Thür
und Thor zu öffnen
!

§. 5.

Ueber Beobachtung Anderer, als ein Mittel zur Auf-
findung psychologischer Thatsachen, läſst sich wohl kaum
etwas sagen, das nicht in die vorstehenden Erörterungen
zurückliefe. Denn, abgesehen von der Frage nach der
Glaubwürdigkeit der Zeugnisse, wird alles darauf ankom-
men, wieviel und wie genau jene Anderen von sich selbst
auffassen und erzählen, und wie richtig wir theils ihre
Erzählungen verstehen, theils die äuſsern Zeichen ihrer
inneren Zustände auslegen. Mit ihren eignen Auffassun-
gen nun sind jene in eben der Lage, wie wir mit den
unsrigen: um aber ihre Beschreibungen zu verstehen,
können wir nur unsre eignen innern Wahrnehmungen
zu Hülfe rufen. Daher beurtheilt denn auch Jeder die
Andern nach sich selbst; und die seltnern Zustände der
Leidenschaft oder Begeisterung, die zarteren Regungen
empfindlicher Gemüther, werden von der bey weitem grö-
ſseren Menge der Menschen nicht verstanden.

Die erste Bemerkung, die sich hier aufdringt, ist
wohl diese, daſs die Unsicherheit in den, auf dem Wege
der Ueberlieferung erworbenen psychologischen Kennt-
nissen, in einem zusammengesetzten Verhältnisse stehe,
und deshalb gröſser sey, als bey der Selbstbeobachtung.
Denn hier vereinigen sich die Mängel und die Erschlei-
chungen in der überlieferten Nachricht mit denen in un-
serer Auslegung, und so laufen wir die Gefahr einer dop-
pelten Täuschung. Sie kann auch noch gröſser werden,
wenn die Ueberlieferung durch eine ganze Reihe von
Menschen fortläuft, deren Jeder das Seinige hinzuthut.
Sollte wohl dieser Fall da statt finden, wo Einer von sei-
ner intellectualen Anschauung redet, und die Tradition
davon ihren Weg durch Kopf und Mund verschiedent-
lich gestimmter Schwärmer nimmt, die Alle in sich selbst
das wiederfinden wollen, was sie vernahmen?

Zu einer zweyten Bemerkung veranlaſst die Neigung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><hi rendition="#g"><pb facs="#f0035" n="15"/>
wohl hüten müssen, den <hi rendition="#i">Erschleichungen</hi> Thür<lb/>
und Thor zu öffnen</hi>!</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 5.</head><lb/>
            <p>Ueber Beobachtung Anderer, als ein Mittel zur Auf-<lb/>
findung psychologischer Thatsachen, lä&#x017F;st sich wohl kaum<lb/>
etwas sagen, das nicht in die vorstehenden Erörterungen<lb/>
zurückliefe. Denn, abgesehen von der Frage nach der<lb/>
Glaubwürdigkeit der Zeugnisse, wird alles darauf ankom-<lb/>
men, wieviel und wie genau jene Anderen von sich selbst<lb/>
auffassen und erzählen, und wie richtig wir theils ihre<lb/>
Erzählungen verstehen, theils die äu&#x017F;sern Zeichen ihrer<lb/>
inneren Zustände auslegen. Mit ihren eignen Auffassun-<lb/>
gen nun sind jene in eben der Lage, wie wir mit den<lb/>
unsrigen: um aber ihre Beschreibungen zu verstehen,<lb/>
können wir nur unsre eignen innern Wahrnehmungen<lb/>
zu Hülfe rufen. Daher beurtheilt denn auch Jeder die<lb/>
Andern nach sich selbst; und die seltnern Zustände der<lb/>
Leidenschaft oder Begeisterung, die zarteren Regungen<lb/>
empfindlicher Gemüther, werden von der bey weitem grö-<lb/>
&#x017F;seren Menge der Menschen nicht verstanden.</p><lb/>
            <p>Die erste Bemerkung, die sich hier aufdringt, ist<lb/>
wohl diese, da&#x017F;s die Unsicherheit in den, auf dem Wege<lb/>
der Ueberlieferung erworbenen psychologischen Kennt-<lb/>
nissen, in einem zusammengesetzten Verhältnisse stehe,<lb/>
und deshalb grö&#x017F;ser sey, als bey der Selbstbeobachtung.<lb/>
Denn hier vereinigen sich die Mängel und die Erschlei-<lb/>
chungen in der überlieferten Nachricht mit denen in un-<lb/>
serer Auslegung, und so laufen wir die Gefahr einer dop-<lb/>
pelten Täuschung. Sie kann auch noch grö&#x017F;ser werden,<lb/>
wenn die Ueberlieferung durch eine ganze Reihe von<lb/>
Menschen fortläuft, deren Jeder das Seinige hinzuthut.<lb/>
Sollte wohl dieser Fall da statt finden, wo Einer von sei-<lb/>
ner intellectualen Anschauung redet, und die Tradition<lb/>
davon ihren Weg durch Kopf und Mund verschiedent-<lb/>
lich gestimmter Schwärmer nimmt, die Alle in sich selbst<lb/>
das wiederfinden wollen, was sie vernahmen?</p><lb/>
            <p>Zu einer zweyten Bemerkung veranla&#x017F;st die Neigung<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[15/0035] wohl hüten müssen, den Erschleichungen Thür und Thor zu öffnen! §. 5. Ueber Beobachtung Anderer, als ein Mittel zur Auf- findung psychologischer Thatsachen, läſst sich wohl kaum etwas sagen, das nicht in die vorstehenden Erörterungen zurückliefe. Denn, abgesehen von der Frage nach der Glaubwürdigkeit der Zeugnisse, wird alles darauf ankom- men, wieviel und wie genau jene Anderen von sich selbst auffassen und erzählen, und wie richtig wir theils ihre Erzählungen verstehen, theils die äuſsern Zeichen ihrer inneren Zustände auslegen. Mit ihren eignen Auffassun- gen nun sind jene in eben der Lage, wie wir mit den unsrigen: um aber ihre Beschreibungen zu verstehen, können wir nur unsre eignen innern Wahrnehmungen zu Hülfe rufen. Daher beurtheilt denn auch Jeder die Andern nach sich selbst; und die seltnern Zustände der Leidenschaft oder Begeisterung, die zarteren Regungen empfindlicher Gemüther, werden von der bey weitem grö- ſseren Menge der Menschen nicht verstanden. Die erste Bemerkung, die sich hier aufdringt, ist wohl diese, daſs die Unsicherheit in den, auf dem Wege der Ueberlieferung erworbenen psychologischen Kennt- nissen, in einem zusammengesetzten Verhältnisse stehe, und deshalb gröſser sey, als bey der Selbstbeobachtung. Denn hier vereinigen sich die Mängel und die Erschlei- chungen in der überlieferten Nachricht mit denen in un- serer Auslegung, und so laufen wir die Gefahr einer dop- pelten Täuschung. Sie kann auch noch gröſser werden, wenn die Ueberlieferung durch eine ganze Reihe von Menschen fortläuft, deren Jeder das Seinige hinzuthut. Sollte wohl dieser Fall da statt finden, wo Einer von sei- ner intellectualen Anschauung redet, und die Tradition davon ihren Weg durch Kopf und Mund verschiedent- lich gestimmter Schwärmer nimmt, die Alle in sich selbst das wiederfinden wollen, was sie vernahmen? Zu einer zweyten Bemerkung veranlaſst die Neigung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/35
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/35>, abgerufen am 21.11.2024.