Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

sich aussendet, theils auszusenden im Begriff ist, durch
welche sie den einströmenden begegnet; dergestalt, dass
man nicht sagen kann, ob das Ich mehr activ oder pas-
siv erscheine, indem fast stets beydes zugleich und nahe
in gleichem Maasse Statt findet. Die innere Welt aber,
oder die Welt der innern Wahrnehmung, ist in steter
Fortbildung begriffen, und nach der Art ihrer Bildung
höchst verschieden; sie erscheint anders dem Dichter, an-
ders dem Philosophen, und beyden anders als dem
schuldbewussten Sünder, oder als dem Tugendhaften, der
sich in fromme Selbstbetrachtung versenkt. Jedesmal
aber baut sie sich aus nach ähnlichen Formen wie die
Aussenwelt; so dass auch in ihr das Ich wie ein umher-
wandelnder Punct erscheint, dem bald diese bald jene
Gegend in ihr mehr sichtbar wird; und will man sie zer-
legen, so wird man finden, dass sie gerade so wie unsre
Aussenwelt, aus Vorstellungsreihen besteht; mit dem Un-
terschiede, dass in ihr die Gesetze der Wirksamkeit und
Reizbarkeit dieser Reihen mehr selbstständig regieren,
als in der Aussenwelt, in welche wir jeden Augenblick
neue Vorstellungen aufnehmen müssen, weil unser Ver-
hältniss zu dem, was wirklich ausser uns existirt, sich
unaufhörlich ändert.

Bey dieser Gränze wollen wir stehen bleiben. Nicht
als ob die innere Wahrnehmung nicht in die Mechanik
des Geistes gehörte. Unstreitig muss eine Zeit kommen,
wo man auch das Verhältniss derjenigen Vorstellungs-
Massen
, die sich zu verschiedenen Zeiten unter ver-
schiedenen Umgebungen und Umständen bildeten, auf
synthetischem Wege vollständiger untersuchen wird, wie
es auf analytische Weise geschehen kann. Vielleicht
wird man selbst mit der Genauigkeit der Rechnung einige
von den Gesetzen erkennen, nach welchen von den stär-
keren und älteren jener Vorstellungsmassen die schwächern
appercipirt werden; ähnlich der Aneignung neuer Wahr-
nehmungen des äussern Sinnes durch die älteren Vor-
stellungen, während wir anschauen, und das Angeschaute

sich aussendet, theils auszusenden im Begriff ist, durch
welche sie den einströmenden begegnet; dergestalt, daſs
man nicht sagen kann, ob das Ich mehr activ oder pas-
siv erscheine, indem fast stets beydes zugleich und nahe
in gleichem Maaſse Statt findet. Die innere Welt aber,
oder die Welt der innern Wahrnehmung, ist in steter
Fortbildung begriffen, und nach der Art ihrer Bildung
höchst verschieden; sie erscheint anders dem Dichter, an-
ders dem Philosophen, und beyden anders als dem
schuldbewuſsten Sünder, oder als dem Tugendhaften, der
sich in fromme Selbstbetrachtung versenkt. Jedesmal
aber baut sie sich aus nach ähnlichen Formen wie die
Auſsenwelt; so daſs auch in ihr das Ich wie ein umher-
wandelnder Punct erscheint, dem bald diese bald jene
Gegend in ihr mehr sichtbar wird; und will man sie zer-
legen, so wird man finden, daſs sie gerade so wie unsre
Auſsenwelt, aus Vorstellungsreihen besteht; mit dem Un-
terschiede, daſs in ihr die Gesetze der Wirksamkeit und
Reizbarkeit dieser Reihen mehr selbstständig regieren,
als in der Auſsenwelt, in welche wir jeden Augenblick
neue Vorstellungen aufnehmen müssen, weil unser Ver-
hältniſs zu dem, was wirklich auſser uns existirt, sich
unaufhörlich ändert.

Bey dieser Gränze wollen wir stehen bleiben. Nicht
als ob die innere Wahrnehmung nicht in die Mechanik
des Geistes gehörte. Unstreitig muſs eine Zeit kommen,
wo man auch das Verhältniſs derjenigen Vorstellungs-
Massen
, die sich zu verschiedenen Zeiten unter ver-
schiedenen Umgebungen und Umständen bildeten, auf
synthetischem Wege vollständiger untersuchen wird, wie
es auf analytische Weise geschehen kann. Vielleicht
wird man selbst mit der Genauigkeit der Rechnung einige
von den Gesetzen erkennen, nach welchen von den stär-
keren und älteren jener Vorstellungsmassen die schwächern
appercipirt werden; ähnlich der Aneignung neuer Wahr-
nehmungen des äuſsern Sinnes durch die älteren Vor-
stellungen, während wir anschauen, und das Angeschaute

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0396" n="376"/>
sich aussendet, theils auszusenden im Begriff ist, durch<lb/>
welche sie den einströmenden begegnet; dergestalt, da&#x017F;s<lb/>
man nicht sagen kann, ob das Ich mehr activ oder pas-<lb/>
siv erscheine, indem fast stets beydes zugleich und nahe<lb/>
in gleichem Maa&#x017F;se Statt findet. Die innere Welt aber,<lb/>
oder die Welt der innern Wahrnehmung, ist in steter<lb/>
Fortbildung begriffen, und nach der Art ihrer Bildung<lb/>
höchst verschieden; sie erscheint anders dem Dichter, an-<lb/>
ders dem Philosophen, und beyden anders als dem<lb/>
schuldbewu&#x017F;sten Sünder, oder als dem Tugendhaften, der<lb/>
sich in fromme Selbstbetrachtung versenkt. Jedesmal<lb/>
aber baut sie sich aus nach ähnlichen Formen wie die<lb/>
Au&#x017F;senwelt; so da&#x017F;s auch in ihr das Ich wie ein umher-<lb/>
wandelnder Punct erscheint, dem bald diese bald jene<lb/>
Gegend in ihr mehr sichtbar wird; und will man sie zer-<lb/>
legen, so wird man finden, da&#x017F;s sie gerade so wie unsre<lb/>
Au&#x017F;senwelt, aus Vorstellungsreihen besteht; mit dem Un-<lb/>
terschiede, da&#x017F;s in ihr die Gesetze der Wirksamkeit und<lb/>
Reizbarkeit dieser Reihen mehr selbstständig regieren,<lb/>
als in der Au&#x017F;senwelt, in welche wir jeden Augenblick<lb/>
neue Vorstellungen aufnehmen müssen, weil unser Ver-<lb/>
hältni&#x017F;s zu dem, was wirklich au&#x017F;ser uns existirt, sich<lb/>
unaufhörlich ändert.</p><lb/>
              <p>Bey dieser Gränze wollen wir stehen bleiben. Nicht<lb/>
als ob die innere Wahrnehmung nicht in die Mechanik<lb/>
des Geistes gehörte. Unstreitig mu&#x017F;s eine Zeit kommen,<lb/>
wo man auch das Verhältni&#x017F;s derjenigen <hi rendition="#g">Vorstellungs-<lb/>
Massen</hi>, die sich zu verschiedenen Zeiten unter ver-<lb/>
schiedenen Umgebungen und Umständen bildeten, auf<lb/>
synthetischem Wege vollständiger untersuchen wird, wie<lb/>
es auf analytische Weise geschehen kann. Vielleicht<lb/>
wird man selbst mit der Genauigkeit der Rechnung einige<lb/>
von den Gesetzen erkennen, nach welchen von den stär-<lb/>
keren und älteren jener Vorstellungsmassen die schwächern<lb/>
appercipirt werden; ähnlich der Aneignung neuer Wahr-<lb/>
nehmungen des äu&#x017F;sern Sinnes durch die älteren Vor-<lb/>
stellungen, während wir anschauen, und das Angeschaute<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[376/0396] sich aussendet, theils auszusenden im Begriff ist, durch welche sie den einströmenden begegnet; dergestalt, daſs man nicht sagen kann, ob das Ich mehr activ oder pas- siv erscheine, indem fast stets beydes zugleich und nahe in gleichem Maaſse Statt findet. Die innere Welt aber, oder die Welt der innern Wahrnehmung, ist in steter Fortbildung begriffen, und nach der Art ihrer Bildung höchst verschieden; sie erscheint anders dem Dichter, an- ders dem Philosophen, und beyden anders als dem schuldbewuſsten Sünder, oder als dem Tugendhaften, der sich in fromme Selbstbetrachtung versenkt. Jedesmal aber baut sie sich aus nach ähnlichen Formen wie die Auſsenwelt; so daſs auch in ihr das Ich wie ein umher- wandelnder Punct erscheint, dem bald diese bald jene Gegend in ihr mehr sichtbar wird; und will man sie zer- legen, so wird man finden, daſs sie gerade so wie unsre Auſsenwelt, aus Vorstellungsreihen besteht; mit dem Un- terschiede, daſs in ihr die Gesetze der Wirksamkeit und Reizbarkeit dieser Reihen mehr selbstständig regieren, als in der Auſsenwelt, in welche wir jeden Augenblick neue Vorstellungen aufnehmen müssen, weil unser Ver- hältniſs zu dem, was wirklich auſser uns existirt, sich unaufhörlich ändert. Bey dieser Gränze wollen wir stehen bleiben. Nicht als ob die innere Wahrnehmung nicht in die Mechanik des Geistes gehörte. Unstreitig muſs eine Zeit kommen, wo man auch das Verhältniſs derjenigen Vorstellungs- Massen, die sich zu verschiedenen Zeiten unter ver- schiedenen Umgebungen und Umständen bildeten, auf synthetischem Wege vollständiger untersuchen wird, wie es auf analytische Weise geschehen kann. Vielleicht wird man selbst mit der Genauigkeit der Rechnung einige von den Gesetzen erkennen, nach welchen von den stär- keren und älteren jener Vorstellungsmassen die schwächern appercipirt werden; ähnlich der Aneignung neuer Wahr- nehmungen des äuſsern Sinnes durch die älteren Vor- stellungen, während wir anschauen, und das Angeschaute

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/396
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/396>, abgerufen am 16.06.2024.