sich aussendet, theils auszusenden im Begriff ist, durch welche sie den einströmenden begegnet; dergestalt, dass man nicht sagen kann, ob das Ich mehr activ oder pas- siv erscheine, indem fast stets beydes zugleich und nahe in gleichem Maasse Statt findet. Die innere Welt aber, oder die Welt der innern Wahrnehmung, ist in steter Fortbildung begriffen, und nach der Art ihrer Bildung höchst verschieden; sie erscheint anders dem Dichter, an- ders dem Philosophen, und beyden anders als dem schuldbewussten Sünder, oder als dem Tugendhaften, der sich in fromme Selbstbetrachtung versenkt. Jedesmal aber baut sie sich aus nach ähnlichen Formen wie die Aussenwelt; so dass auch in ihr das Ich wie ein umher- wandelnder Punct erscheint, dem bald diese bald jene Gegend in ihr mehr sichtbar wird; und will man sie zer- legen, so wird man finden, dass sie gerade so wie unsre Aussenwelt, aus Vorstellungsreihen besteht; mit dem Un- terschiede, dass in ihr die Gesetze der Wirksamkeit und Reizbarkeit dieser Reihen mehr selbstständig regieren, als in der Aussenwelt, in welche wir jeden Augenblick neue Vorstellungen aufnehmen müssen, weil unser Ver- hältniss zu dem, was wirklich ausser uns existirt, sich unaufhörlich ändert.
Bey dieser Gränze wollen wir stehen bleiben. Nicht als ob die innere Wahrnehmung nicht in die Mechanik des Geistes gehörte. Unstreitig muss eine Zeit kommen, wo man auch das Verhältniss derjenigen Vorstellungs- Massen, die sich zu verschiedenen Zeiten unter ver- schiedenen Umgebungen und Umständen bildeten, auf synthetischem Wege vollständiger untersuchen wird, wie es auf analytische Weise geschehen kann. Vielleicht wird man selbst mit der Genauigkeit der Rechnung einige von den Gesetzen erkennen, nach welchen von den stär- keren und älteren jener Vorstellungsmassen die schwächern appercipirt werden; ähnlich der Aneignung neuer Wahr- nehmungen des äussern Sinnes durch die älteren Vor- stellungen, während wir anschauen, und das Angeschaute
sich aussendet, theils auszusenden im Begriff ist, durch welche sie den einströmenden begegnet; dergestalt, daſs man nicht sagen kann, ob das Ich mehr activ oder pas- siv erscheine, indem fast stets beydes zugleich und nahe in gleichem Maaſse Statt findet. Die innere Welt aber, oder die Welt der innern Wahrnehmung, ist in steter Fortbildung begriffen, und nach der Art ihrer Bildung höchst verschieden; sie erscheint anders dem Dichter, an- ders dem Philosophen, und beyden anders als dem schuldbewuſsten Sünder, oder als dem Tugendhaften, der sich in fromme Selbstbetrachtung versenkt. Jedesmal aber baut sie sich aus nach ähnlichen Formen wie die Auſsenwelt; so daſs auch in ihr das Ich wie ein umher- wandelnder Punct erscheint, dem bald diese bald jene Gegend in ihr mehr sichtbar wird; und will man sie zer- legen, so wird man finden, daſs sie gerade so wie unsre Auſsenwelt, aus Vorstellungsreihen besteht; mit dem Un- terschiede, daſs in ihr die Gesetze der Wirksamkeit und Reizbarkeit dieser Reihen mehr selbstständig regieren, als in der Auſsenwelt, in welche wir jeden Augenblick neue Vorstellungen aufnehmen müssen, weil unser Ver- hältniſs zu dem, was wirklich auſser uns existirt, sich unaufhörlich ändert.
Bey dieser Gränze wollen wir stehen bleiben. Nicht als ob die innere Wahrnehmung nicht in die Mechanik des Geistes gehörte. Unstreitig muſs eine Zeit kommen, wo man auch das Verhältniſs derjenigen Vorstellungs- Massen, die sich zu verschiedenen Zeiten unter ver- schiedenen Umgebungen und Umständen bildeten, auf synthetischem Wege vollständiger untersuchen wird, wie es auf analytische Weise geschehen kann. Vielleicht wird man selbst mit der Genauigkeit der Rechnung einige von den Gesetzen erkennen, nach welchen von den stär- keren und älteren jener Vorstellungsmassen die schwächern appercipirt werden; ähnlich der Aneignung neuer Wahr- nehmungen des äuſsern Sinnes durch die älteren Vor- stellungen, während wir anschauen, und das Angeschaute
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0396"n="376"/>
sich aussendet, theils auszusenden im Begriff ist, durch<lb/>
welche sie den einströmenden begegnet; dergestalt, daſs<lb/>
man nicht sagen kann, ob das Ich mehr activ oder pas-<lb/>
siv erscheine, indem fast stets beydes zugleich und nahe<lb/>
in gleichem Maaſse Statt findet. Die innere Welt aber,<lb/>
oder die Welt der innern Wahrnehmung, ist in steter<lb/>
Fortbildung begriffen, und nach der Art ihrer Bildung<lb/>
höchst verschieden; sie erscheint anders dem Dichter, an-<lb/>
ders dem Philosophen, und beyden anders als dem<lb/>
schuldbewuſsten Sünder, oder als dem Tugendhaften, der<lb/>
sich in fromme Selbstbetrachtung versenkt. Jedesmal<lb/>
aber baut sie sich aus nach ähnlichen Formen wie die<lb/>
Auſsenwelt; so daſs auch in ihr das Ich wie ein umher-<lb/>
wandelnder Punct erscheint, dem bald diese bald jene<lb/>
Gegend in ihr mehr sichtbar wird; und will man sie zer-<lb/>
legen, so wird man finden, daſs sie gerade so wie unsre<lb/>
Auſsenwelt, aus Vorstellungsreihen besteht; mit dem Un-<lb/>
terschiede, daſs in ihr die Gesetze der Wirksamkeit und<lb/>
Reizbarkeit dieser Reihen mehr selbstständig regieren,<lb/>
als in der Auſsenwelt, in welche wir jeden Augenblick<lb/>
neue Vorstellungen aufnehmen müssen, weil unser Ver-<lb/>
hältniſs zu dem, was wirklich auſser uns existirt, sich<lb/>
unaufhörlich ändert.</p><lb/><p>Bey dieser Gränze wollen wir stehen bleiben. Nicht<lb/>
als ob die innere Wahrnehmung nicht in die Mechanik<lb/>
des Geistes gehörte. Unstreitig muſs eine Zeit kommen,<lb/>
wo man auch das Verhältniſs derjenigen <hirendition="#g">Vorstellungs-<lb/>
Massen</hi>, die sich zu verschiedenen Zeiten unter ver-<lb/>
schiedenen Umgebungen und Umständen bildeten, auf<lb/>
synthetischem Wege vollständiger untersuchen wird, wie<lb/>
es auf analytische Weise geschehen kann. Vielleicht<lb/>
wird man selbst mit der Genauigkeit der Rechnung einige<lb/>
von den Gesetzen erkennen, nach welchen von den stär-<lb/>
keren und älteren jener Vorstellungsmassen die schwächern<lb/>
appercipirt werden; ähnlich der Aneignung neuer Wahr-<lb/>
nehmungen des äuſsern Sinnes durch die älteren Vor-<lb/>
stellungen, während wir anschauen, und das Angeschaute<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[376/0396]
sich aussendet, theils auszusenden im Begriff ist, durch
welche sie den einströmenden begegnet; dergestalt, daſs
man nicht sagen kann, ob das Ich mehr activ oder pas-
siv erscheine, indem fast stets beydes zugleich und nahe
in gleichem Maaſse Statt findet. Die innere Welt aber,
oder die Welt der innern Wahrnehmung, ist in steter
Fortbildung begriffen, und nach der Art ihrer Bildung
höchst verschieden; sie erscheint anders dem Dichter, an-
ders dem Philosophen, und beyden anders als dem
schuldbewuſsten Sünder, oder als dem Tugendhaften, der
sich in fromme Selbstbetrachtung versenkt. Jedesmal
aber baut sie sich aus nach ähnlichen Formen wie die
Auſsenwelt; so daſs auch in ihr das Ich wie ein umher-
wandelnder Punct erscheint, dem bald diese bald jene
Gegend in ihr mehr sichtbar wird; und will man sie zer-
legen, so wird man finden, daſs sie gerade so wie unsre
Auſsenwelt, aus Vorstellungsreihen besteht; mit dem Un-
terschiede, daſs in ihr die Gesetze der Wirksamkeit und
Reizbarkeit dieser Reihen mehr selbstständig regieren,
als in der Auſsenwelt, in welche wir jeden Augenblick
neue Vorstellungen aufnehmen müssen, weil unser Ver-
hältniſs zu dem, was wirklich auſser uns existirt, sich
unaufhörlich ändert.
Bey dieser Gränze wollen wir stehen bleiben. Nicht
als ob die innere Wahrnehmung nicht in die Mechanik
des Geistes gehörte. Unstreitig muſs eine Zeit kommen,
wo man auch das Verhältniſs derjenigen Vorstellungs-
Massen, die sich zu verschiedenen Zeiten unter ver-
schiedenen Umgebungen und Umständen bildeten, auf
synthetischem Wege vollständiger untersuchen wird, wie
es auf analytische Weise geschehen kann. Vielleicht
wird man selbst mit der Genauigkeit der Rechnung einige
von den Gesetzen erkennen, nach welchen von den stär-
keren und älteren jener Vorstellungsmassen die schwächern
appercipirt werden; ähnlich der Aneignung neuer Wahr-
nehmungen des äuſsern Sinnes durch die älteren Vor-
stellungen, während wir anschauen, und das Angeschaute
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/396>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.