Kant dachte sich seine Kritik als Propädeutik zu einem künftigen System. Hinwiederum seine Lehre von den Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes sollte die Vorbereitung ausmachen zur Kritik der Vernunft im engern Sinne. Allein ich glaube jetzt hinreichend gezeigt zu haben, dass noch etwas ganz anderes, nämlich die Hauptansichten der Statik und Mechanik des Geistes, vor- ausgehn müssen, wenn selbst das, was Kant als seine Elementarlehre betrachtete, zum Gegenstande einer gründ- lichen Untersuchung soll gemacht werden. Im Allgemei- nen hat man längst erkannt, dass der Kantschen Kritik irgend etwas vorangeschickt werden müsse. Aber man wird sich nicht verhehlen können, dass Reinhold, Fichte und Schelling sich in ihren Bemühungen, die Kant- schen Untersuchungen besser zu begründen, sehr weit von diesem Gegenstande entfernten; während Fries, Krug u. a. der Darstellung ihres Meisters so nahe blie- ben, dass eigentlich nur die Form des Vortrags geändert wurde. Die deutsche Philosophie befindet sich nun noch immer in einer solchen Lage, dass Kants Schriften die Hauptwerke sind, welche Jeder lesen muss, um sich zu orientiren; dass also auch der Gang, welchen Kant ein- mal eingeschlagen hat, eine ganz entschiedene historische Wichtigkeit behauptet, wie man auch übrigens darüber urtheilen möge. Daher können wir diese Lehren von den Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes weder bey Seite setzen, noch sie mit allen ihren Fehlern so lassen wie sie sind; es bleibt nichts anderes übrig, als sie ge- nauer zu prüfen. Wollen nun einige Leser dieses Buchs sich vorläufig selbst versuchen, ob sie aus dem, was hier vorgetragen worden, sich Rechenschaft über den Ursprung unserer Vorstellungen von Raum, Zeit, und den Katego- rien herleiten können: so wird dies für sie eine zweck- mässige Vorbereitung auf den zweyten Theil dieses Werks seyn; obgleich meine Absicht, indem sie die ganze Psy- chologie umfasst; sich beträchtlich weiter erstreckt.
Durch Fichte, und ganz unstreitig schon durch sei-
nen
Kant dachte sich seine Kritik als Propädeutik zu einem künftigen System. Hinwiederum seine Lehre von den Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes sollte die Vorbereitung ausmachen zur Kritik der Vernunft im engern Sinne. Allein ich glaube jetzt hinreichend gezeigt zu haben, daſs noch etwas ganz anderes, nämlich die Hauptansichten der Statik und Mechanik des Geistes, vor- ausgehn müssen, wenn selbst das, was Kant als seine Elementarlehre betrachtete, zum Gegenstande einer gründ- lichen Untersuchung soll gemacht werden. Im Allgemei- nen hat man längst erkannt, daſs der Kantschen Kritik irgend etwas vorangeschickt werden müsse. Aber man wird sich nicht verhehlen können, daſs Reinhold, Fichte und Schelling sich in ihren Bemühungen, die Kant- schen Untersuchungen besser zu begründen, sehr weit von diesem Gegenstande entfernten; während Fries, Krug u. a. der Darstellung ihres Meisters so nahe blie- ben, daſs eigentlich nur die Form des Vortrags geändert wurde. Die deutsche Philosophie befindet sich nun noch immer in einer solchen Lage, daſs Kants Schriften die Hauptwerke sind, welche Jeder lesen muſs, um sich zu orientiren; daſs also auch der Gang, welchen Kant ein- mal eingeschlagen hat, eine ganz entschiedene historische Wichtigkeit behauptet, wie man auch übrigens darüber urtheilen möge. Daher können wir diese Lehren von den Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes weder bey Seite setzen, noch sie mit allen ihren Fehlern so lassen wie sie sind; es bleibt nichts anderes übrig, als sie ge- nauer zu prüfen. Wollen nun einige Leser dieses Buchs sich vorläufig selbst versuchen, ob sie aus dem, was hier vorgetragen worden, sich Rechenschaft über den Ursprung unserer Vorstellungen von Raum, Zeit, und den Katego- rien herleiten können: so wird dies für sie eine zweck- mäſsige Vorbereitung auf den zweyten Theil dieses Werks seyn; obgleich meine Absicht, indem sie die ganze Psy- chologie umfaſst; sich beträchtlich weiter erstreckt.
Durch Fichte, und ganz unstreitig schon durch sei-
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Kant dachte sich seine Kritik als Propädeutik zu
einem künftigen System. Hinwiederum seine Lehre von
den Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes sollte
die Vorbereitung ausmachen zur Kritik der Vernunft im
engern Sinne. Allein ich glaube jetzt hinreichend gezeigt
zu haben, daſs noch etwas ganz anderes, nämlich die
Hauptansichten der Statik und Mechanik des Geistes, vor-
ausgehn müssen, wenn selbst das, was Kant als seine
Elementarlehre betrachtete, zum Gegenstande einer gründ-
lichen Untersuchung soll gemacht werden. Im Allgemei-
nen hat man längst erkannt, daſs der Kantschen Kritik
irgend etwas vorangeschickt werden müsse. Aber man
wird sich nicht verhehlen können, daſs Reinhold, Fichte
und Schelling sich in ihren Bemühungen, die Kant-
schen Untersuchungen besser zu begründen, sehr weit
von diesem Gegenstande entfernten; während Fries,
Krug u. a. der Darstellung ihres Meisters so nahe blie-
ben, daſs eigentlich nur die Form des Vortrags geändert
wurde. Die deutsche Philosophie befindet sich nun noch
immer in einer solchen Lage, daſs Kants Schriften die
Hauptwerke sind, welche Jeder lesen muſs, um sich zu
orientiren; daſs also auch der Gang, welchen Kant ein-
mal eingeschlagen hat, eine ganz entschiedene historische
Wichtigkeit behauptet, wie man auch übrigens darüber
urtheilen möge. Daher können wir diese Lehren von den
Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes weder bey
Seite setzen, noch sie mit allen ihren Fehlern so lassen
wie sie sind; es bleibt nichts anderes übrig, als sie ge-
nauer zu prüfen. Wollen nun einige Leser dieses Buchs
sich vorläufig selbst versuchen, ob sie aus dem, was hier
vorgetragen worden, sich Rechenschaft über den Ursprung
unserer Vorstellungen von Raum, Zeit, und den Katego-
rien herleiten können: so wird dies für sie eine zweck-
mäſsige Vorbereitung auf den zweyten Theil dieses Werks
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/408>, abgerufen am 27.11.2024.
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