Noch weit weniger vollendet ist die Erfahrung des gemeinen Mannes, so wie er sie sich denkt. Er empfin- det jeden Augenblick Wärme oder Kälte; aber die Fra- gen: Ist die Wärme eine Substanz? Muss man die Kälte als blosse Negation der Wärme, oder umgekehrt die Wärme als Aufhebung der Kälte betrachten? -- Diese Fragen fallen ihm nicht ein. Er hält von Jugend auf das Wasser für eine Substanz; aber bey weiterer Ausbildung lässt er sich geduldig belehren das Wasser sey nur eine Verbindung des Eises mit der Wärme, das Eis aber nur eine Form, wie Sauerstoff und Wasserstoff verbunden sich in der Erscheinung dar- stellen. Seine Kategorien haben ihn nicht belehrt, und widersetzen sich der Belehrung nicht; sie verhalten sich bloss passiv!
Die kritische Untersuchung des Verstandes, was will sie nun eigentlich wissen? Die Anzahl der ursprünglich vorhandenen Kategorien? Angenommen, es gäbe der- gleichen ursprüngliche Denkformen wirklich: so sind die- selben für sich allein nur leere Begriffe, aber kein wirk- liches Denken und Erkennen; dasjenige aber, was wir kritisiren wollten, um es besser zu leiten, war eben das wirkliche Erkennen. Die Bewegung, welche in uns vorgeht, während wir denken, die Aufregung, die Er- regbarkeit selbst, welche dabey vorausgesetzt wird, diese musste untersucht werden.
Hat aber diese Bewegung bestimmte Gesetze, denen sie mit Nothwendigkeit folgt: so können auch die Kate- gorien Erzeugnisse des Denkens seyn; und zwar un- vollendete Erzeugnisse eines noch weiter fortzu- setzenden Denkens. Die Nothwendigkeit, welche eini- gen Lehrsätzen über dieselben beywohnt, ist alsdann zwar nicht empirisch, sondern a priori; jedoch auf eine Weise, die mit präformirten Begriffen nicht die geringste Aehn- lichkeit hat. Hierüber schweigen aber die Argumente der Kantschen Schule gänzlich, und das ist sehr natürlich, denn sie hat vom Mechanismus des Denkens keine Kenntniss.
Noch weit weniger vollendet ist die Erfahrung des gemeinen Mannes, so wie er sie sich denkt. Er empfin- det jeden Augenblick Wärme oder Kälte; aber die Fra- gen: Ist die Wärme eine Substanz? Muſs man die Kälte als bloſse Negation der Wärme, oder umgekehrt die Wärme als Aufhebung der Kälte betrachten? — Diese Fragen fallen ihm nicht ein. Er hält von Jugend auf das Wasser für eine Substanz; aber bey weiterer Ausbildung läſst er sich geduldig belehren das Wasser sey nur eine Verbindung des Eises mit der Wärme, das Eis aber nur eine Form, wie Sauerstoff und Wasserstoff verbunden sich in der Erscheinung dar- stellen. Seine Kategorien haben ihn nicht belehrt, und widersetzen sich der Belehrung nicht; sie verhalten sich bloſs passiv!
Die kritische Untersuchung des Verstandes, was will sie nun eigentlich wissen? Die Anzahl der ursprünglich vorhandenen Kategorien? Angenommen, es gäbe der- gleichen ursprüngliche Denkformen wirklich: so sind die- selben für sich allein nur leere Begriffe, aber kein wirk- liches Denken und Erkennen; dasjenige aber, was wir kritisiren wollten, um es besser zu leiten, war eben das wirkliche Erkennen. Die Bewegung, welche in uns vorgeht, während wir denken, die Aufregung, die Er- regbarkeit selbst, welche dabey vorausgesetzt wird, diese muſste untersucht werden.
Hat aber diese Bewegung bestimmte Gesetze, denen sie mit Nothwendigkeit folgt: so können auch die Kate- gorien Erzeugnisse des Denkens seyn; und zwar un- vollendete Erzeugnisse eines noch weiter fortzu- setzenden Denkens. Die Nothwendigkeit, welche eini- gen Lehrsätzen über dieselben beywohnt, ist alsdann zwar nicht empirisch, sondern a priori; jedoch auf eine Weise, die mit präformirten Begriffen nicht die geringste Aehn- lichkeit hat. Hierüber schweigen aber die Argumente der Kantschen Schule gänzlich, und das ist sehr natürlich, denn sie hat vom Mechanismus des Denkens keine Kenntniſs.
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Noch weit weniger vollendet ist die Erfahrung des
gemeinen Mannes, so wie er sie sich denkt. Er empfin-
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gen: Ist die Wärme eine Substanz? Muſs man
die Kälte als bloſse Negation der Wärme, oder
umgekehrt die Wärme als Aufhebung der Kälte
betrachten? — Diese Fragen fallen ihm nicht ein. Er
hält von Jugend auf das Wasser für eine Substanz; aber
bey weiterer Ausbildung läſst er sich geduldig belehren
das Wasser sey nur eine Verbindung des Eises mit der
Wärme, das Eis aber nur eine Form, wie Sauerstoff
und Wasserstoff verbunden sich in der Erscheinung dar-
stellen. Seine Kategorien haben ihn nicht belehrt, und
widersetzen sich der Belehrung nicht; sie verhalten sich
bloſs passiv!
Die kritische Untersuchung des Verstandes, was will
sie nun eigentlich wissen? Die Anzahl der ursprünglich
vorhandenen Kategorien? Angenommen, es gäbe der-
gleichen ursprüngliche Denkformen wirklich: so sind die-
selben für sich allein nur leere Begriffe, aber kein wirk-
liches Denken und Erkennen; dasjenige aber, was wir
kritisiren wollten, um es besser zu leiten, war eben das
wirkliche Erkennen. Die Bewegung, welche in uns
vorgeht, während wir denken, die Aufregung, die Er-
regbarkeit selbst, welche dabey vorausgesetzt wird,
diese muſste untersucht werden.
Hat aber diese Bewegung bestimmte Gesetze, denen
sie mit Nothwendigkeit folgt: so können auch die Kate-
gorien Erzeugnisse des Denkens seyn; und zwar un-
vollendete Erzeugnisse eines noch weiter fortzu-
setzenden Denkens. Die Nothwendigkeit, welche eini-
gen Lehrsätzen über dieselben beywohnt, ist alsdann zwar
nicht empirisch, sondern a priori; jedoch auf eine Weise,
die mit präformirten Begriffen nicht die geringste Aehn-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/407>, abgerufen am 23.11.2024.
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