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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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rung "hat die Kategorie keinen andern Gebrauch zur Er-
kenntniss der Dinge, als ihre Anwendung auf Gegen-
stände der Erfahrung."

Kant sahe also ein, dass in Ansehung der wahren
Bedeutung der Kategorien alles auf die Frage ankomme:
wie bildet sich unsre Erfahrung?

Wenn er nun dies einsah: wie mag es zugegan-
gen seyn, dass er in einer so wichtigen Untersuchung die
einfachsten Zeugnisse der Erfahrung selbst überhörte?

Es ist nämlich klare Thatsache: dass in Anse-
hung des Gebrauchs, den wir von den Katego-
rien zu machen haben, die Erfahrung noch bey
weitem nicht vollständig bestimmt, dass sie
nichts Fertiges, sondern im Werden und im
Schwanken begriffen ist
.

Das Universum, ist es Eins? Oder ist die Welt
nur eine Summe von ursprünglich Vielem? Darüber ist
Streit! Das geistige Erdenleben des Menschen, ist es
eine Realität, oder eine Negation, und blosse Ein-
schränkung
eines höheren Daseyns. Darüber ist Streit!
Die Imponderabilien, Licht, Wärme, Elektricität u. s. w.,
ja die Seele selbst, sind es Substanzen oder Acci-
denzen
? Darüber ist Streit! Die sogenannten freyen
Handlungen der Menschen, sind sie zufällig oder noth-
wendig
? Darüber ist Streit!

Wie sollen diese Streitfragen zu ihrer Beantwortung
gelangen? Durch die Kategorien? Allerdings müsste es
so geschehen, wenn dieselben den vollständigen Grund
ihrer Anwendung auf Erfahrungsgegenstände in sich selbst
enthielten. Warum aber, wenn die Kategorien in jedem
menschlichen Verstande, die nämlichen, wenn die Ver-
fahrungsarten und Gesetze des Verstandes in uns Allen
die gleichen sind, warum finden wir nicht alle die Be-
antwortung dieser Fragen auf gleichlautende Weise?
Ohne Zweifel darum, weil weder unser Nachdenken voll-
endet, noch unsre Wahrnehmung und Beobachtung voll-
ständig ist.

rung „hat die Kategorie keinen andern Gebrauch zur Er-
kenntniſs der Dinge, als ihre Anwendung auf Gegen-
stände der Erfahrung.“

Kant sahe also ein, daſs in Ansehung der wahren
Bedeutung der Kategorien alles auf die Frage ankomme:
wie bildet sich unsre Erfahrung?

Wenn er nun dies einsah: wie mag es zugegan-
gen seyn, daſs er in einer so wichtigen Untersuchung die
einfachsten Zeugnisse der Erfahrung selbst überhörte?

Es ist nämlich klare Thatsache: daſs in Anse-
hung des Gebrauchs, den wir von den Katego-
rien zu machen haben, die Erfahrung noch bey
weitem nicht vollständig bestimmt, daſs sie
nichts Fertiges, sondern im Werden und im
Schwanken begriffen ist
.

Das Universum, ist es Eins? Oder ist die Welt
nur eine Summe von ursprünglich Vielem? Darüber ist
Streit! Das geistige Erdenleben des Menschen, ist es
eine Realität, oder eine Negation, und bloſse Ein-
schränkung
eines höheren Daseyns. Darüber ist Streit!
Die Imponderabilien, Licht, Wärme, Elektricität u. s. w.,
ja die Seele selbst, sind es Substanzen oder Acci-
denzen
? Darüber ist Streit! Die sogenannten freyen
Handlungen der Menschen, sind sie zufällig oder noth-
wendig
? Darüber ist Streit!

Wie sollen diese Streitfragen zu ihrer Beantwortung
gelangen? Durch die Kategorien? Allerdings müſste es
so geschehen, wenn dieselben den vollständigen Grund
ihrer Anwendung auf Erfahrungsgegenstände in sich selbst
enthielten. Warum aber, wenn die Kategorien in jedem
menschlichen Verstande, die nämlichen, wenn die Ver-
fahrungsarten und Gesetze des Verstandes in uns Allen
die gleichen sind, warum finden wir nicht alle die Be-
antwortung dieser Fragen auf gleichlautende Weise?
Ohne Zweifel darum, weil weder unser Nachdenken voll-
endet, noch unsre Wahrnehmung und Beobachtung voll-
ständig ist.

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[386/0406] rung „hat die Kategorie keinen andern Gebrauch zur Er- kenntniſs der Dinge, als ihre Anwendung auf Gegen- stände der Erfahrung.“ Kant sahe also ein, daſs in Ansehung der wahren Bedeutung der Kategorien alles auf die Frage ankomme: wie bildet sich unsre Erfahrung? Wenn er nun dies einsah: wie mag es zugegan- gen seyn, daſs er in einer so wichtigen Untersuchung die einfachsten Zeugnisse der Erfahrung selbst überhörte? Es ist nämlich klare Thatsache: daſs in Anse- hung des Gebrauchs, den wir von den Katego- rien zu machen haben, die Erfahrung noch bey weitem nicht vollständig bestimmt, daſs sie nichts Fertiges, sondern im Werden und im Schwanken begriffen ist. Das Universum, ist es Eins? Oder ist die Welt nur eine Summe von ursprünglich Vielem? Darüber ist Streit! Das geistige Erdenleben des Menschen, ist es eine Realität, oder eine Negation, und bloſse Ein- schränkung eines höheren Daseyns. Darüber ist Streit! Die Imponderabilien, Licht, Wärme, Elektricität u. s. w., ja die Seele selbst, sind es Substanzen oder Acci- denzen? Darüber ist Streit! Die sogenannten freyen Handlungen der Menschen, sind sie zufällig oder noth- wendig? Darüber ist Streit! Wie sollen diese Streitfragen zu ihrer Beantwortung gelangen? Durch die Kategorien? Allerdings müſste es so geschehen, wenn dieselben den vollständigen Grund ihrer Anwendung auf Erfahrungsgegenstände in sich selbst enthielten. Warum aber, wenn die Kategorien in jedem menschlichen Verstande, die nämlichen, wenn die Ver- fahrungsarten und Gesetze des Verstandes in uns Allen die gleichen sind, warum finden wir nicht alle die Be- antwortung dieser Fragen auf gleichlautende Weise? Ohne Zweifel darum, weil weder unser Nachdenken voll- endet, noch unsre Wahrnehmung und Beobachtung voll- ständig ist.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/406>, abgerufen am 23.11.2024.