wahrt. Die Begierden bedienen sich des Verstandes, wo er ihnen nützlich seyn kann, aber sie verweisen ihm seine difficiles nugas, seine brodlosen Künste. Er will von ih- nen nicht gestört, am wenigsten verblendet seyn; doch er muss weichen oder fröhnen, da sogar die Vernunft sich ihrer kaum erwehren, und das Vernünfteln der Lei- denschaften nicht verhindern kann. Die ästhetische Ur- theilskraft kämpft wider die Sinnenlust; und sie verthei- digt zuweilen die Einbildungskraft wider den Verstand. Aber die Vernunft pflegt ihr zu widersprechen, und das Schöne mit dem Hässlichen in den Rang blosser Erschei- nungen zurückzustellen. -- Unser eigenes Ich ist der Kampfplatz für alle diese Streitigkeiten! Ja es ist selbst die Gesammtheit aller dieser streitenden Partheyen!
Wird man dieses im Ernste glauben? -- Und doch stützt sich alles zuvor Gesagte auf bekannte Thatsachen. Die Frage ist bloss, ob eine wirkliche Vielheit von Kräf- ten, die mit einem beharrlichen Daseyn in uns bestehen und wirken, und einander bald helfen, bald anfeinden, aus den Thatsachen solle geschlossen werden? Ob man immer fortfahren wolle, dem augenscheinlich flüssigen Wesen aller Gemüthszustände Trotz zu bieten; und, je mehr dieselben jeder Auffassung in harten und starren Formen widerstreben, desto hartnäckiger und eifriger ih- nen dergleichen aufzudringen? Unseres Wissens hat die bisherige, auch die neuere und neueste, Psychologie, durch- aus nichts anderes geleistet, als immer neue, vergrö- sserte, schärfer gezeichnete Spaltungen und Gegensätze unter den vermeinten Seelenkräften. -- Jedoch, unsere Philosophen fangen schon an sich zu entschuldigen, wenn sie aus Noth, wie sie meinen, und weil man sich doch müsse ausdrücken können, von Seelenvermögen reden; sie wollen es schon nicht Wort haben, dass sie wirklich und im Ernste jene Trennungen vorgenommen hätten; sie verehren die unbekannte Einheit aller jener Ver- mögen. Damit haben sie nun zwar an wirklicher Kennt- niss der Seele noch nichts gewonnen, und die eigentliche
wahrt. Die Begierden bedienen sich des Verstandes, wo er ihnen nützlich seyn kann, aber sie verweisen ihm seine difficiles nugas, seine brodlosen Künste. Er will von ih- nen nicht gestört, am wenigsten verblendet seyn; doch er muſs weichen oder fröhnen, da sogar die Vernunft sich ihrer kaum erwehren, und das Vernünfteln der Lei- denschaften nicht verhindern kann. Die ästhetische Ur- theilskraft kämpft wider die Sinnenlust; und sie verthei- digt zuweilen die Einbildungskraft wider den Verstand. Aber die Vernunft pflegt ihr zu widersprechen, und das Schöne mit dem Häſslichen in den Rang bloſser Erschei- nungen zurückzustellen. — Unser eigenes Ich ist der Kampfplatz für alle diese Streitigkeiten! Ja es ist selbst die Gesammtheit aller dieser streitenden Partheyen!
Wird man dieses im Ernste glauben? — Und doch stützt sich alles zuvor Gesagte auf bekannte Thatsachen. Die Frage ist bloſs, ob eine wirkliche Vielheit von Kräf- ten, die mit einem beharrlichen Daseyn in uns bestehen und wirken, und einander bald helfen, bald anfeinden, aus den Thatsachen solle geschlossen werden? Ob man immer fortfahren wolle, dem augenscheinlich flüssigen Wesen aller Gemüthszustände Trotz zu bieten; und, je mehr dieselben jeder Auffassung in harten und starren Formen widerstreben, desto hartnäckiger und eifriger ih- nen dergleichen aufzudringen? Unseres Wissens hat die bisherige, auch die neuere und neueste, Psychologie, durch- aus nichts anderes geleistet, als immer neue, vergrö- ſserte, schärfer gezeichnete Spaltungen und Gegensätze unter den vermeinten Seelenkräften. — Jedoch, unsere Philosophen fangen schon an sich zu entschuldigen, wenn sie aus Noth, wie sie meinen, und weil man sich doch müsse ausdrücken können, von Seelenvermögen reden; sie wollen es schon nicht Wort haben, daſs sie wirklich und im Ernste jene Trennungen vorgenommen hätten; sie verehren die unbekannte Einheit aller jener Ver- mögen. Damit haben sie nun zwar an wirklicher Kennt- niſs der Seele noch nichts gewonnen, und die eigentliche
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wahrt. Die Begierden bedienen sich des Verstandes, wo
er ihnen nützlich seyn kann, aber sie verweisen ihm seine
difficiles nugas, seine brodlosen Künste. Er will von ih-
nen nicht gestört, am wenigsten verblendet seyn; doch
er muſs weichen oder fröhnen, da sogar die Vernunft
sich ihrer kaum erwehren, und das Vernünfteln der Lei-
denschaften nicht verhindern kann. Die ästhetische Ur-
theilskraft kämpft wider die Sinnenlust; und sie verthei-
digt zuweilen die Einbildungskraft wider den Verstand.
Aber die Vernunft pflegt ihr zu widersprechen, und das
Schöne mit dem Häſslichen in den Rang bloſser Erschei-
nungen zurückzustellen. — Unser eigenes Ich ist der
Kampfplatz für alle diese Streitigkeiten! Ja es ist selbst
die Gesammtheit aller dieser streitenden Partheyen!
Wird man dieses im Ernste glauben? — Und doch
stützt sich alles zuvor Gesagte auf bekannte Thatsachen.
Die Frage ist bloſs, ob eine wirkliche Vielheit von Kräf-
ten, die mit einem beharrlichen Daseyn in uns bestehen
und wirken, und einander bald helfen, bald anfeinden,
aus den Thatsachen solle geschlossen werden? Ob man
immer fortfahren wolle, dem augenscheinlich flüssigen
Wesen aller Gemüthszustände Trotz zu bieten; und, je
mehr dieselben jeder Auffassung in harten und starren
Formen widerstreben, desto hartnäckiger und eifriger ih-
nen dergleichen aufzudringen? Unseres Wissens hat die
bisherige, auch die neuere und neueste, Psychologie, durch-
aus nichts anderes geleistet, als immer neue, vergrö-
ſserte, schärfer gezeichnete Spaltungen und Gegensätze
unter den vermeinten Seelenkräften. — Jedoch, unsere
Philosophen fangen schon an sich zu entschuldigen, wenn
sie aus Noth, wie sie meinen, und weil man sich doch
müsse ausdrücken können, von Seelenvermögen reden;
sie wollen es schon nicht Wort haben, daſs sie wirklich
und im Ernste jene Trennungen vorgenommen hätten;
sie verehren die unbekannte Einheit aller jener Ver-
mögen. Damit haben sie nun zwar an wirklicher Kennt-
niſs der Seele noch nichts gewonnen, und die eigentliche
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/44>, abgerufen am 21.11.2024.
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