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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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um desto eher ergiebt er in Verbindung mit den Ergän-
zungen eben das, was in allen Wissenschaften zuerst ge-
sucht wird, nämlich eine allgemeine Theorie, durch de-
ren Hülfe eine grosse Mannigfaltigkeit von Thatsachen
gleich Anfangs überschaut werden kann. Ueberdies ist
ein Begriff für die speculative Behandlung allemal um so
bequemer, je allgemeiner, das heisst, je ärmer an Inhalt
er ist; so lange nur die Abstraction nicht den Keim der
Beziehungen in ihm zerstört hat. Im letztern Falle frey-
lich wird er unbrauchbar; allein alle Ueberladung mit
Merkmalen, welche die Untersuchung nicht fördern, bringt
nur Verwirrung hervor.

Ein neuer Zuwachs an Bequemlichkeit aber ist es,
wenn, der Allgemeinheit unbeschadet, ein Begriff uns
nicht nöthigt, sogleich in seinen Umfang hinabzusteigen,
und specielle Fälle zu durchlaufen, um uns seiner Gül-
tigkeit, und seiner wesentlichen Merkmale zu versichern.
Um dies deutlich zu machen, nehme man zuvörderst ein
Paar Beyspiele des Gegentheils. Der Begriff des Wil-
lens ist sehr allgemein; aber um uns seiner Gültigkeit zu
versichern, (dass er aus dem Gegebenen entsprungen,
nicht willkührlich gemacht ist,) müssen wir Beyspiele dazu
in der innern Wahrnehmung unseres eigenen Wollens
aufsuchen. Was finden wir nun hier? Sehr verschiedene,
continuirlich in einander fliessende Grade des Wollens!
Entschlüsse, aber auch Neigungen, Launen, unbestimmte
Aufregungen; freye Wahl, aber auch das erzwungene
Wollen wider Willen, womit der Wehrlose sich ent-
schliesst, den Räuber abzukaufen. Was heisst nun ei-
gentlich Wollen? Die innere Wahrnehmung muss es
lehren, aber ihre Belehrung ist zu weitläuftig für einen
Begriff, der mit Präcision aufgefasst, und der Specula-
tion überliefert, zum Princip einer Untersuchung dienen
soll. -- Desgleichen, der Begriff des Gedächtnisses ist
sehr allgemein; wenden wir aber den Blick einwärts, um
uns genau an das Gegebene zu erinnern, was dem Be-
griffe seinen Inhalt bestimmt, so kommen uns die An-

schau-

um desto eher ergiebt er in Verbindung mit den Ergän-
zungen eben das, was in allen Wissenschaften zuerst ge-
sucht wird, nämlich eine allgemeine Theorie, durch de-
ren Hülfe eine groſse Mannigfaltigkeit von Thatsachen
gleich Anfangs überschaut werden kann. Ueberdies ist
ein Begriff für die speculative Behandlung allemal um so
bequemer, je allgemeiner, das heiſst, je ärmer an Inhalt
er ist; so lange nur die Abstraction nicht den Keim der
Beziehungen in ihm zerstört hat. Im letztern Falle frey-
lich wird er unbrauchbar; allein alle Ueberladung mit
Merkmalen, welche die Untersuchung nicht fördern, bringt
nur Verwirrung hervor.

Ein neuer Zuwachs an Bequemlichkeit aber ist es,
wenn, der Allgemeinheit unbeschadet, ein Begriff uns
nicht nöthigt, sogleich in seinen Umfang hinabzusteigen,
und specielle Fälle zu durchlaufen, um uns seiner Gül-
tigkeit, und seiner wesentlichen Merkmale zu versichern.
Um dies deutlich zu machen, nehme man zuvörderst ein
Paar Beyspiele des Gegentheils. Der Begriff des Wil-
lens ist sehr allgemein; aber um uns seiner Gültigkeit zu
versichern, (daſs er aus dem Gegebenen entsprungen,
nicht willkührlich gemacht ist,) müssen wir Beyspiele dazu
in der innern Wahrnehmung unseres eigenen Wollens
aufsuchen. Was finden wir nun hier? Sehr verschiedene,
continuirlich in einander flieſsende Grade des Wollens!
Entschlüsse, aber auch Neigungen, Launen, unbestimmte
Aufregungen; freye Wahl, aber auch das erzwungene
Wollen wider Willen, womit der Wehrlose sich ent-
schlieſst, den Räuber abzukaufen. Was heiſst nun ei-
gentlich Wollen? Die innere Wahrnehmung muſs es
lehren, aber ihre Belehrung ist zu weitläuftig für einen
Begriff, der mit Präcision aufgefaſst, und der Specula-
tion überliefert, zum Princip einer Untersuchung dienen
soll. — Desgleichen, der Begriff des Gedächtnisses ist
sehr allgemein; wenden wir aber den Blick einwärts, um
uns genau an das Gegebene zu erinnern, was dem Be-
griffe seinen Inhalt bestimmt, so kommen uns die An-

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[32/0052] um desto eher ergiebt er in Verbindung mit den Ergän- zungen eben das, was in allen Wissenschaften zuerst ge- sucht wird, nämlich eine allgemeine Theorie, durch de- ren Hülfe eine groſse Mannigfaltigkeit von Thatsachen gleich Anfangs überschaut werden kann. Ueberdies ist ein Begriff für die speculative Behandlung allemal um so bequemer, je allgemeiner, das heiſst, je ärmer an Inhalt er ist; so lange nur die Abstraction nicht den Keim der Beziehungen in ihm zerstört hat. Im letztern Falle frey- lich wird er unbrauchbar; allein alle Ueberladung mit Merkmalen, welche die Untersuchung nicht fördern, bringt nur Verwirrung hervor. Ein neuer Zuwachs an Bequemlichkeit aber ist es, wenn, der Allgemeinheit unbeschadet, ein Begriff uns nicht nöthigt, sogleich in seinen Umfang hinabzusteigen, und specielle Fälle zu durchlaufen, um uns seiner Gül- tigkeit, und seiner wesentlichen Merkmale zu versichern. Um dies deutlich zu machen, nehme man zuvörderst ein Paar Beyspiele des Gegentheils. Der Begriff des Wil- lens ist sehr allgemein; aber um uns seiner Gültigkeit zu versichern, (daſs er aus dem Gegebenen entsprungen, nicht willkührlich gemacht ist,) müssen wir Beyspiele dazu in der innern Wahrnehmung unseres eigenen Wollens aufsuchen. Was finden wir nun hier? Sehr verschiedene, continuirlich in einander flieſsende Grade des Wollens! Entschlüsse, aber auch Neigungen, Launen, unbestimmte Aufregungen; freye Wahl, aber auch das erzwungene Wollen wider Willen, womit der Wehrlose sich ent- schlieſst, den Räuber abzukaufen. Was heiſst nun ei- gentlich Wollen? Die innere Wahrnehmung muſs es lehren, aber ihre Belehrung ist zu weitläuftig für einen Begriff, der mit Präcision aufgefaſst, und der Specula- tion überliefert, zum Princip einer Untersuchung dienen soll. — Desgleichen, der Begriff des Gedächtnisses ist sehr allgemein; wenden wir aber den Blick einwärts, um uns genau an das Gegebene zu erinnern, was dem Be- griffe seinen Inhalt bestimmt, so kommen uns die An- schau-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/52>, abgerufen am 21.11.2024.