Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

man als Principien benutzen sollte, durch Erdichtung ver-
borgener Qualitäten für alle weitere Forschung zu ver-
derben.

Im Allgemeinen jedoch ist Locke's Ansicht dem Feh-
ler, den er in Ansehung des Gedächtnisses beging, ge-
rade entgegengesetzt. Als eifriger Bestreiter der angebor-
nen Ideen, wollte er die Seele von der Mannigfaltigkeit
dessen, womit man sie ursprünglich ausgesteuert glaubte,
vielmehr befreyen; um für eine, auf Erfahrung gebaute,
Theorie Raum zu gewinnen, die, wenn nicht einer ma-
thematisch-physikalischen Demonstration, so doch einer
pragmatischen Geschichtserzählung mag verglichen wer-
den. Schade, dass ihm das Haupt-Argument seiner Geg-
ner, das von den allgemeinen und nothwendigen Wahr-
heiten hergenommen ist, und das Leibniz in den nou-
veaux essays
gegen ihn gelten macht, nicht in seiner
ganzen Stärke scheint vorgeschwebt zu haben. Dies Ar-
gument beginnt mit triftigen Gründen, und endigt mit
einer Erschleichung. Man sagt mit Recht, Erfahrung
gebe nur das Einzelne, Wirkliche, nicht das Allgemeine
und Nothwendige. Man schliesst auch noch richtig, es
müsse das letztre auf der Eigenthümlichkeit des erken-
nenden Subjects beruhen. Aber man erschleicht die
Mehrheit verschiedener Formen des Erkenntnissvermö-
gens, oder auch die Mehrheit der angebornen Ideen; mit
einem Wort, man erschleicht die vorausgesetzte Man-
nigfaltigkeit der Anlage
und die besondre Na-
tur
des Subjects, woraus man erklären will, dass dieses
Subject, der Mensch, gerade diese und gerade so viele
nothwendige Wahrheiten, und keine andern, in seinem
Denken antreffe. Denn man hat nicht untersucht, ob
nicht die Nothwendigkeit in allen jenen Wahrheiten nur
von einerley Art sey; und ob nicht der Eine Grund die-
ser Nothwendigkeit unmittelbar in der Einheit des er-
kennenden Wesens
, ohne irgend eine weitere Be-
stimmung seiner Qualität, vollends ohne irgend eine Man-
nigfaltigkeit von Einrichtungen in demselben, vollständig

I. D

man als Principien benutzen sollte, durch Erdichtung ver-
borgener Qualitäten für alle weitere Forschung zu ver-
derben.

Im Allgemeinen jedoch ist Locke’s Ansicht dem Feh-
ler, den er in Ansehung des Gedächtnisses beging, ge-
rade entgegengesetzt. Als eifriger Bestreiter der angebor-
nen Ideen, wollte er die Seele von der Mannigfaltigkeit
dessen, womit man sie ursprünglich ausgesteuert glaubte,
vielmehr befreyen; um für eine, auf Erfahrung gebaute,
Theorie Raum zu gewinnen, die, wenn nicht einer ma-
thematisch-physikalischen Demonstration, so doch einer
pragmatischen Geschichtserzählung mag verglichen wer-
den. Schade, daſs ihm das Haupt-Argument seiner Geg-
ner, das von den allgemeinen und nothwendigen Wahr-
heiten hergenommen ist, und das Leibniz in den nou-
veaux essays
gegen ihn gelten macht, nicht in seiner
ganzen Stärke scheint vorgeschwebt zu haben. Dies Ar-
gument beginnt mit triftigen Gründen, und endigt mit
einer Erschleichung. Man sagt mit Recht, Erfahrung
gebe nur das Einzelne, Wirkliche, nicht das Allgemeine
und Nothwendige. Man schlieſst auch noch richtig, es
müsse das letztre auf der Eigenthümlichkeit des erken-
nenden Subjects beruhen. Aber man erschleicht die
Mehrheit verschiedener Formen des Erkenntniſsvermö-
gens, oder auch die Mehrheit der angebornen Ideen; mit
einem Wort, man erschleicht die vorausgesetzte Man-
nigfaltigkeit der Anlage
und die besondre Na-
tur
des Subjects, woraus man erklären will, daſs dieses
Subject, der Mensch, gerade diese und gerade so viele
nothwendige Wahrheiten, und keine andern, in seinem
Denken antreffe. Denn man hat nicht untersucht, ob
nicht die Nothwendigkeit in allen jenen Wahrheiten nur
von einerley Art sey; und ob nicht der Eine Grund die-
ser Nothwendigkeit unmittelbar in der Einheit des er-
kennenden Wesens
, ohne irgend eine weitere Be-
stimmung seiner Qualität, vollends ohne irgend eine Man-
nigfaltigkeit von Einrichtungen in demselben, vollständig

I. D
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0069" n="49"/>
man als Principien benutzen sollte, durch Erdichtung ver-<lb/>
borgener Qualitäten für alle weitere Forschung zu ver-<lb/>
derben.</p><lb/>
            <p>Im Allgemeinen jedoch ist <hi rendition="#g">Locke</hi>&#x2019;s Ansicht dem Feh-<lb/>
ler, den er in Ansehung des Gedächtnisses beging, ge-<lb/>
rade entgegengesetzt. Als eifriger Bestreiter der angebor-<lb/>
nen Ideen, wollte er die Seele von der Mannigfaltigkeit<lb/>
dessen, womit man sie ursprünglich ausgesteuert glaubte,<lb/>
vielmehr befreyen; um für eine, auf Erfahrung gebaute,<lb/>
Theorie Raum zu gewinnen, die, wenn nicht einer ma-<lb/>
thematisch-physikalischen Demonstration, so doch einer<lb/>
pragmatischen Geschichtserzählung mag verglichen wer-<lb/>
den. Schade, da&#x017F;s ihm das Haupt-Argument seiner Geg-<lb/>
ner, das von den allgemeinen und nothwendigen Wahr-<lb/>
heiten hergenommen ist, und das <hi rendition="#g">Leibniz</hi> in den <hi rendition="#i">nou-<lb/>
veaux essays</hi> gegen ihn gelten macht, nicht in seiner<lb/>
ganzen Stärke scheint vorgeschwebt zu haben. Dies Ar-<lb/>
gument beginnt mit triftigen Gründen, und endigt mit<lb/>
einer Erschleichung. Man sagt mit Recht, Erfahrung<lb/>
gebe nur das Einzelne, Wirkliche, nicht das Allgemeine<lb/>
und Nothwendige. Man schlie&#x017F;st auch noch richtig, es<lb/>
müsse das letztre auf der Eigenthümlichkeit des erken-<lb/>
nenden Subjects beruhen. Aber man erschleicht die<lb/>
Mehrheit verschiedener Formen des Erkenntni&#x017F;svermö-<lb/>
gens, oder auch die Mehrheit der angebornen Ideen; mit<lb/>
einem Wort, man erschleicht die vorausgesetzte <hi rendition="#g">Man-<lb/>
nigfaltigkeit der Anlage</hi> und die <hi rendition="#g">besondre Na-<lb/>
tur</hi> des Subjects, woraus man erklären will, da&#x017F;s dieses<lb/>
Subject, der Mensch, gerade diese und gerade so viele<lb/>
nothwendige Wahrheiten, und keine andern, in seinem<lb/>
Denken antreffe. Denn man hat nicht untersucht, ob<lb/>
nicht die Nothwendigkeit in allen jenen Wahrheiten nur<lb/>
von einerley Art sey; und ob nicht der Eine Grund die-<lb/>
ser Nothwendigkeit unmittelbar in der <hi rendition="#g">Einheit des er-<lb/>
kennenden Wesens</hi>, ohne irgend eine weitere Be-<lb/>
stimmung seiner Qualität, vollends ohne irgend eine Man-<lb/>
nigfaltigkeit von Einrichtungen in demselben, vollständig<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#i">I.</hi> D</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[49/0069] man als Principien benutzen sollte, durch Erdichtung ver- borgener Qualitäten für alle weitere Forschung zu ver- derben. Im Allgemeinen jedoch ist Locke’s Ansicht dem Feh- ler, den er in Ansehung des Gedächtnisses beging, ge- rade entgegengesetzt. Als eifriger Bestreiter der angebor- nen Ideen, wollte er die Seele von der Mannigfaltigkeit dessen, womit man sie ursprünglich ausgesteuert glaubte, vielmehr befreyen; um für eine, auf Erfahrung gebaute, Theorie Raum zu gewinnen, die, wenn nicht einer ma- thematisch-physikalischen Demonstration, so doch einer pragmatischen Geschichtserzählung mag verglichen wer- den. Schade, daſs ihm das Haupt-Argument seiner Geg- ner, das von den allgemeinen und nothwendigen Wahr- heiten hergenommen ist, und das Leibniz in den nou- veaux essays gegen ihn gelten macht, nicht in seiner ganzen Stärke scheint vorgeschwebt zu haben. Dies Ar- gument beginnt mit triftigen Gründen, und endigt mit einer Erschleichung. Man sagt mit Recht, Erfahrung gebe nur das Einzelne, Wirkliche, nicht das Allgemeine und Nothwendige. Man schlieſst auch noch richtig, es müsse das letztre auf der Eigenthümlichkeit des erken- nenden Subjects beruhen. Aber man erschleicht die Mehrheit verschiedener Formen des Erkenntniſsvermö- gens, oder auch die Mehrheit der angebornen Ideen; mit einem Wort, man erschleicht die vorausgesetzte Man- nigfaltigkeit der Anlage und die besondre Na- tur des Subjects, woraus man erklären will, daſs dieses Subject, der Mensch, gerade diese und gerade so viele nothwendige Wahrheiten, und keine andern, in seinem Denken antreffe. Denn man hat nicht untersucht, ob nicht die Nothwendigkeit in allen jenen Wahrheiten nur von einerley Art sey; und ob nicht der Eine Grund die- ser Nothwendigkeit unmittelbar in der Einheit des er- kennenden Wesens, ohne irgend eine weitere Be- stimmung seiner Qualität, vollends ohne irgend eine Man- nigfaltigkeit von Einrichtungen in demselben, vollständig I. D

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/69
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/69>, abgerufen am 09.11.2024.