Seit Wolffs Zeiten haben zwar Materialisten, Skep- tiker, Physiologen, die Seelenlehre in mancherley Schwan- kungen zu setzen, die Freunde der Erfahrung dagegen sie vestzuhalten und durch Beobachtungen zu bereichern versucht. Allein erst die Kant'sche Lehre gewann, we- nigstens in Deutschland, eine allgemeinere Herrschaft, und damit einen entscheidendern Einfluss auch auf die Psychologie. Und ungeachtet des Zwischenraums zwi- schen Wolff und Kant, erinnert doch der letztere oft genug an jenen, wie auch an dessen Vorgänger. Die ersten Worte der Kritik der reinen Vernunft scheinen zu Locken geredet; die Erwähnung der nothwendigen und allgemeinen Wahrheiten unterstützt Leibnizen; und vielfältig in dem Kant'schen Hauptwerke werden Locke und Leibniz einander gegenüber gestellt. Ohne Vergleich lebendiger ist der Ausdruck der Speculation bey Kant als bey Wolff; aber die Namenerklärungen, aus denen Wolff grossentheils sein Lehrgebäude auf- führte, finden doch einen Nachklang in der Terminologie, womit Kant, über den Bedarf, sein Werk ausschmückte. Die rationale Psychologie, welche sich Wolff als sein verdienstliches Werk zuschrieb, fand ihren Gegner in Kant; aber den Seelenvermögen, die jener systematisch abhandelte, widerfuhr die Ehre, von dem letztern noch weit mehr auseinander gesetzt zu werden.
Erinnert man sich der starken Gegensätze, welche Kant zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstande, zwi- schen dem Verstande und der Vernunft, zwischen der theoretischen und praktischen Vernunft, zwischen der praktischen Vernunft und dem niedern Begehrungsvermö- gen, endlich zwischen den beyden Arten der Urtheilskraft bevestigte: so mag man wohl überlegen, ob jemals ein Philosoph die Einheit unsrer Persönlichkeit so gewaltsam behandelt; das fliessende unserer Zustände, das Ineinan- der-Greifen aller unsrer Vorstellungen, das allmählige Entstehen eines Gedankens aus dem andern, so wenig
§. 20.
Seit Wolffs Zeiten haben zwar Materialisten, Skep- tiker, Physiologen, die Seelenlehre in mancherley Schwan- kungen zu setzen, die Freunde der Erfahrung dagegen sie vestzuhalten und durch Beobachtungen zu bereichern versucht. Allein erst die Kant’sche Lehre gewann, we- nigstens in Deutschland, eine allgemeinere Herrschaft, und damit einen entscheidendern Einfluſs auch auf die Psychologie. Und ungeachtet des Zwischenraums zwi- schen Wolff und Kant, erinnert doch der letztere oft genug an jenen, wie auch an dessen Vorgänger. Die ersten Worte der Kritik der reinen Vernunft scheinen zu Locken geredet; die Erwähnung der nothwendigen und allgemeinen Wahrheiten unterstützt Leibnizen; und vielfältig in dem Kant’schen Hauptwerke werden Locke und Leibniz einander gegenüber gestellt. Ohne Vergleich lebendiger ist der Ausdruck der Speculation bey Kant als bey Wolff; aber die Namenerklärungen, aus denen Wolff groſsentheils sein Lehrgebäude auf- führte, finden doch einen Nachklang in der Terminologie, womit Kant, über den Bedarf, sein Werk ausschmückte. Die rationale Psychologie, welche sich Wolff als sein verdienstliches Werk zuschrieb, fand ihren Gegner in Kant; aber den Seelenvermögen, die jener systematisch abhandelte, widerfuhr die Ehre, von dem letztern noch weit mehr auseinander gesetzt zu werden.
Erinnert man sich der starken Gegensätze, welche Kant zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstande, zwi- schen dem Verstande und der Vernunft, zwischen der theoretischen und praktischen Vernunft, zwischen der praktischen Vernunft und dem niedern Begehrungsvermö- gen, endlich zwischen den beyden Arten der Urtheilskraft bevestigte: so mag man wohl überlegen, ob jemals ein Philosoph die Einheit unsrer Persönlichkeit so gewaltsam behandelt; das flieſsende unserer Zustände, das Ineinan- der-Greifen aller unsrer Vorstellungen, das allmählige Entstehen eines Gedankens aus dem andern, so wenig
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§. 20.
Seit Wolffs Zeiten haben zwar Materialisten, Skep-
tiker, Physiologen, die Seelenlehre in mancherley Schwan-
kungen zu setzen, die Freunde der Erfahrung dagegen
sie vestzuhalten und durch Beobachtungen zu bereichern
versucht. Allein erst die Kant’sche Lehre gewann, we-
nigstens in Deutschland, eine allgemeinere Herrschaft,
und damit einen entscheidendern Einfluſs auch auf die
Psychologie. Und ungeachtet des Zwischenraums zwi-
schen Wolff und Kant, erinnert doch der letztere oft
genug an jenen, wie auch an dessen Vorgänger. Die
ersten Worte der Kritik der reinen Vernunft scheinen
zu Locken geredet; die Erwähnung der nothwendigen
und allgemeinen Wahrheiten unterstützt Leibnizen;
und vielfältig in dem Kant’schen Hauptwerke werden
Locke und Leibniz einander gegenüber gestellt. Ohne
Vergleich lebendiger ist der Ausdruck der Speculation
bey Kant als bey Wolff; aber die Namenerklärungen,
aus denen Wolff groſsentheils sein Lehrgebäude auf-
führte, finden doch einen Nachklang in der Terminologie,
womit Kant, über den Bedarf, sein Werk ausschmückte.
Die rationale Psychologie, welche sich Wolff als sein
verdienstliches Werk zuschrieb, fand ihren Gegner in
Kant; aber den Seelenvermögen, die jener systematisch
abhandelte, widerfuhr die Ehre, von dem letztern noch
weit mehr auseinander gesetzt zu werden.
Erinnert man sich der starken Gegensätze, welche
Kant zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstande, zwi-
schen dem Verstande und der Vernunft, zwischen der
theoretischen und praktischen Vernunft, zwischen der
praktischen Vernunft und dem niedern Begehrungsvermö-
gen, endlich zwischen den beyden Arten der Urtheilskraft
bevestigte: so mag man wohl überlegen, ob jemals ein
Philosoph die Einheit unsrer Persönlichkeit so gewaltsam
behandelt; das flieſsende unserer Zustände, das Ineinan-
der-Greifen aller unsrer Vorstellungen, das allmählige
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/81>, abgerufen am 21.11.2024.
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