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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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vermögen, welche wenigstens scheinbar durch ein Gefühl
des Könnens sich innerlich kund thun, Beyspiel und Er-
läuterung finden möchten: so werden wir am Ende in die
Ontologie geschickt; und zwar in das Capitel de notione
entis;
wo wir unter andern folgende Offenbarung empfan-
gen: Si ens quoddam concipiendum, primo loco in eo po-
nenda sunt, quae sibi mutuo non repugnant
*).
Hier muss nothwendig derjenige bestürzt werden, der bis-
her von dem Seyenden den Begriff hatte, dass es eine
völlige Einheit, ohne alle Mannigfaltigkeit, ausmache.
Bey Wolffen scheint es nicht einmal einer Frage
werth, ob, und in wiefern eine innere Mehrheit sich mit
der notione entis vertrage? Auch giebt es dann gleich
weiter so viele essentialia, attributa, modi, die alle gera-
den Weges durch Namenerklärungen eingeführt werden;
dass wir schon darauf gefasst seyn müssen, diese Fülle
auch bey dem ens simplex nicht los zu werden, von wel-
chem keine andre Verneinungen vorkommen, als die sich
auf die Ausdehnung beziehen **). Und auch in dem lan-
gen Capitel mit dem vielversprechenden Titel: de modifi-
cationibus rerum, praesertim simplicium
, wird man schwer-
lich eine tüchtigere Aussage finden, als die im §. 712.:
Praesupponi debent in ente essentialia, antequam attri-
buta et modi sequi possunt
. -- Doch es ist bekannt, wie
Wolff durchgängig über dem ens, (dem was seyn kann)
das Esse vergass, wie er die Möglichkeit und die Namen-
erklärungen voranschickte, die Realität aber, man weiss
nicht recht wie, hintennach dazu kommen liess; wie er
vor lauter logischer Deutlichkeit die eigentlichen Dun-
kelheiten gar unsichtbar machte. Ein solcher Mann
konnte der Psychologie nicht aufhelfen; wohl aber den
Winken des Leibniz die nöthige Aufmerksamkeit ent-
ziehen.

*) Wolfii ontologia. §. 142.
**) Ibid. §. 683.

vermögen, welche wenigstens scheinbar durch ein Gefühl
des Könnens sich innerlich kund thun, Beyspiel und Er-
läuterung finden möchten: so werden wir am Ende in die
Ontologie geschickt; und zwar in das Capitel de notione
entis;
wo wir unter andern folgende Offenbarung empfan-
gen: Si ens quoddam concipiendum, primo loco in eo po-
nenda sunt, quae sibi mutuo non repugnant
*).
Hier muſs nothwendig derjenige bestürzt werden, der bis-
her von dem Seyenden den Begriff hatte, daſs es eine
völlige Einheit, ohne alle Mannigfaltigkeit, ausmache.
Bey Wolffen scheint es nicht einmal einer Frage
werth, ob, und in wiefern eine innere Mehrheit sich mit
der notione entis vertrage? Auch giebt es dann gleich
weiter so viele essentialia, attributa, modi, die alle gera-
den Weges durch Namenerklärungen eingeführt werden;
daſs wir schon darauf gefaſst seyn müssen, diese Fülle
auch bey dem ens simplex nicht los zu werden, von wel-
chem keine andre Verneinungen vorkommen, als die sich
auf die Ausdehnung beziehen **). Und auch in dem lan-
gen Capitel mit dem vielversprechenden Titel: de modifi-
cationibus rerum, praesertim simplicium
, wird man schwer-
lich eine tüchtigere Aussage finden, als die im §. 712.:
Praesupponi debent in ente essentialia, antequam attri-
buta et modi sequi possunt
. — Doch es ist bekannt, wie
Wolff durchgängig über dem ens, (dem was seyn kann)
das Esse vergaſs, wie er die Möglichkeit und die Namen-
erklärungen voranschickte, die Realität aber, man weiſs
nicht recht wie, hintennach dazu kommen lieſs; wie er
vor lauter logischer Deutlichkeit die eigentlichen Dun-
kelheiten gar unsichtbar machte. Ein solcher Mann
konnte der Psychologie nicht aufhelfen; wohl aber den
Winken des Leibniz die nöthige Aufmerksamkeit ent-
ziehen.

*) Wolfii ontologia. §. 142.
**) Ibid. §. 683.
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[60/0080] vermögen, welche wenigstens scheinbar durch ein Gefühl des Könnens sich innerlich kund thun, Beyspiel und Er- läuterung finden möchten: so werden wir am Ende in die Ontologie geschickt; und zwar in das Capitel de notione entis; wo wir unter andern folgende Offenbarung empfan- gen: Si ens quoddam concipiendum, primo loco in eo po- nenda sunt, quae sibi mutuo non repugnant *). Hier muſs nothwendig derjenige bestürzt werden, der bis- her von dem Seyenden den Begriff hatte, daſs es eine völlige Einheit, ohne alle Mannigfaltigkeit, ausmache. Bey Wolffen scheint es nicht einmal einer Frage werth, ob, und in wiefern eine innere Mehrheit sich mit der notione entis vertrage? Auch giebt es dann gleich weiter so viele essentialia, attributa, modi, die alle gera- den Weges durch Namenerklärungen eingeführt werden; daſs wir schon darauf gefaſst seyn müssen, diese Fülle auch bey dem ens simplex nicht los zu werden, von wel- chem keine andre Verneinungen vorkommen, als die sich auf die Ausdehnung beziehen **). Und auch in dem lan- gen Capitel mit dem vielversprechenden Titel: de modifi- cationibus rerum, praesertim simplicium, wird man schwer- lich eine tüchtigere Aussage finden, als die im §. 712.: Praesupponi debent in ente essentialia, antequam attri- buta et modi sequi possunt. — Doch es ist bekannt, wie Wolff durchgängig über dem ens, (dem was seyn kann) das Esse vergaſs, wie er die Möglichkeit und die Namen- erklärungen voranschickte, die Realität aber, man weiſs nicht recht wie, hintennach dazu kommen lieſs; wie er vor lauter logischer Deutlichkeit die eigentlichen Dun- kelheiten gar unsichtbar machte. Ein solcher Mann konnte der Psychologie nicht aufhelfen; wohl aber den Winken des Leibniz die nöthige Aufmerksamkeit ent- ziehen. *) Wolfii ontologia. §. 142. **) Ibid. §. 683.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/80>, abgerufen am 17.05.2024.